Tatsächlich stelle ich am Donnerstag schon kurz vor zehn Uhr das Auto am oberen Ortseingang von Myli ab. Ich musste in Karystos etwas herumsuchen bis ich die richtige Abzweigung in das nette Dorf gefunden habe, das oberhalb von Karystos liegt und von Natursteinmauern, Platanen und einem Bach dominiert wird. Wenn man aufmerksam ist, sieht man gelegentlich den roten Punkt, der auch an der Straße den Weg zum Berg Ochi markiert. Zum Berg will ich nicht, aber am Weg liegen die ehemaligen Marmorsteinbrüche, in denen jemand ein paar antike Säulen, Kolones oder Kylindri, vergessen hat. Wie weit und hoch das ist, ist mir nicht klar, aber ich schätze es auf maximal 300 Höhenmeter und eine Stunde ein.
Die befahrbare Straße endet oberhalb eines Platzes mit Brunnen. Den einzigen Schattenplatz hat ein Kombi belegt, womöglich sind heute tatsächlich mal noch mehr Wanderer unterwegs?
Auf einem benachbarten Felsensporn liegt malerisch die Ruine des Castello Rosso, einer venezianischen Festung. Die möchte ich mir auch noch ansehen, aber später.
Die Piste führt im Zickzack bergwärts, an einem Hof mit bellendem Hund und einem großen Strommasten beginnt dann der Fußweg, der zunächst durch ein kleines Tal mit Bach und Oleander verläuft, dieses dann quert und aufwärts steigt. Von dort höre ich Stimmen, es sind doch tatsächlich vier Wanderer, die ich kurz darauf einhole. Zwei Paare aus Belgien sind es, teilweise mit griechischen Hintergrund, und sie fragen mich, ob das der Weg zum Ochi wäre. Da seien sie schon richtig, antworte ich, aber das dürften ab hier noch gut tausend Höhenmeter hinauf sein. Und wieder hinunter. Durchaus ambitioniert. Aber bis zu den Säulen, das wäre wohl nicht so weit, und das wäre mein Weg. Wir gehen ein Stück zusammen und schwätzen über unsere hiesigen Wandererfahrungen. Sie würden auch gerne durch die Dimosaris-Schlucht gehen, und so gebe ich den Tipp mit der SET-Tour am Samstag. Das interessiert sie, vielleicht kommen ja doch noch genug zusammen so dass die Tour stattfinden kann. Und ich erkläre ihnen, wie sie mit dem Auto nahe zum Ochi-Gipfel kommen, wenn sie denn unbedingt zum Drachenhaus dort wollen.
Als ich die vier wenig später aber hinter mir lasse, da die beiden Frauen in ihren leichten Turnschuhen offenbar große Schwierigkeiten mit der Steilheit und der Beschaffenheit des Weges haben und nur sehr langsam vorwärts klettern, kommen mir Zweifel. Man sollte schon gut ausgerüstet sein für so eine vierstündige Schluchtdurchwanderung, und trittsicher, sonst wird es zäh für alle Beteiligten.
Und ich ärgere mich, dass ich meinen Wanderstock im Auto vergessen habe - der wäre mir jetzt schon nützlich. Der Weg ist gut erkennbar oder gut markiert, teilweise mit Steinmännchen, er führt über steiniges Gelände in einem weiten Bogen entlang eines Hanges teilweise steil aufwärts. Er führt nicht zu den wie eine Burg aussehenden, eckig behauenen Felsen in der Talmitte, sondern viel weiter nach rechts, also östlich. Dort kann ich dann bald schon die liegenden Säulen ausmachen, die ich nach einstündiger Wanderung erreiche. Schwitzend vom steilen Aufstieg, aber es ist hier lange noch nicht so warm wie gestern. Und außerdem gerade mal elf Uhr am Vormittag, die Sonne hat die Hänge hier noch nicht lange erreicht.
Die Säulen also. Fünf von ihnen liegen nebeneinander auf einem Absatz, und etwas weiter oben nochmals welche, teilweise eingegraben im Schutt des Steinabfalls. 13 sollen es insgesamt sein, die sich hier am Hang verteilen.
Der grüngraue Marmor dieser Gegend - Steinbrüche gab es auch bei Marmari, das daher seinen Namen hat - ist bekannt für seine dekorative zwiebelähnliche Schichtung, weshalb er heute den Namen "Cipollino" (italienisch für Zwiebel) trägt. Als marmore carysticum wurde er hier schon in der Antike abgebaut und in seiner Hochzeit bis Rom transportiert, wo er in Gebäuden des Forum Romanum verbaut wurde. Die sechs Säulen des Tempels des Antoninus Pius und der Faustina dort sind aus Cipollino von Euböa, aber auch die Hadriansbibliothek in Athen.
Warum nun diese schon fast fertigen Säulen hier liegenblieben, darüber kann nur spekuliert werden. Bis zu zwölf Meter sind sie lang, der Durchmesser beträgt über einen Meter, und sie sind aus einem einzigen Stein gehauen. Die Oberfläche ist teilweise verwittert, so kann man die Struktur gut sehen.
Sehr beeindruckend, und ich warte, ob es einer der Belgier hier heraufschafft, damit ich einen Menschen als Vergleich neben die Säulen stellen kann. Da muss ich aber lange warten, erst nach einer halben Stunde kommen die beiden Männer hier oben an, die Frauen bleiben weiter unten.
So lange genieße ich die geniale Aussicht auf die Bucht von Karystos, das flache Land dahinter und den Felsen mit dem Castello Rosso. Hinter mir kann man den Gipfel des Ochi nicht ausmachen, er versteckt sich hinter Felsenmauern und -graten.
Es ist wunderschön hier.
Google Earth sagt, dass die Säulen auf einer Höhe von 520 Metern liegen, vom Auto waren es also etwa 250 Höhenmeter. Gut zu bewältigen und wirklich lohnenswert, aber mit guten Schuhen bitte.
Ich vespere den Kringel, den ich am Morgen beim Bäcker gekauft habe, klettere auf und um die Säulen herum, versuche, den optimalen Fotowinkel auszumachen. Die beiden Belgier kommen schließlich auch, halten sich aber nicht lange auf.
Nach einer knappen Stunde mache ich mich auch an den Abstieg. Schnell habe ich das Wandergrüppchen ein- und überholt, nach 35 Minuten bin ich wieder am Auto. Es ist erst halb eins.
Ich schaue mir die Brunnen- und Picknickanlage an, bei der ich mein Auto geparkt habe. Der im Vergleich zu Nordeuböa doch eher trockene Süden ist hier üppig mit Wasser ausgestattet. Auch das Leitungswasser kann man bedenkenlos trinken.
Und nun? Hinüber zum Kastell? Oder erst in einen netten Landgasthof? Ich fahre auf der Straße talwärts, suche dann einen Abzweig nach rechts. Beschildert ist mal wieder nichts, aber an einem kleinen Platz mit steingrauer Kirche ist eine Taverne, und an den langen Tischen draußen sitzt eine große Gruppe Menschen. Es sind die Briten aus meinem Hotel, die sich nach einem Spaziergang von Mekounida herüber jetzt hier stärken. Das heißt, sie sind schon fast fertig, und laden mich herzlich ein, mich bei den Resten - Souzoukakia, Feta, Tsatsiki - bedienen. Schmeckt hervorragend. Auch Weißwein ist noch da, aber als Autofahrerin halte ich mich lieber an das Wasser. Adrian, mein Ex-Zimmernachbar und der Guide der Gruppe, fragt mich, ob ich bei den Säulen war. Er hatte sie vorher offenbar vergeblich gesucht und schon als Mythos abtun wollen. Mein Ja bestätigt seine Niederlage, aber er trägt es mit Fassung. Eigentlich ist er schon Ruheständler, aber er führt die Reisegruppen von Adagio-Travel quasi aus Zeitvertreib und um kostengünstig die Welt zu sehen. Er ist afrikaerfahren, kennt aber Griechenland wenig.
Einige der älteren Damen fragen mich nett aus, und entschuldigen sich im Gegenzug bei mir quasi für den Brexit. Ja, das erlebt man jetzt öfters: US-Amerikaner entschuldigen sich für Trump, und Briten für den Brexit. Bin ich froh, dass ich mich nicht mehr für Soible und Merkel entschuldigen muss ...
Die Belgiern tauchen auch irgendwann auf und setzen sich an den Nebentisch. Ob wir am Samstag gemeinsam durch die Dimosaris-Schlucht wandern werden?
Eigentlich ist das Castello Rosso ganz nahe, aber die Straße von dem Platz mit der Taverne ist zu schmal. Ich fahre also Richtung Karystos und hoffe auf einen Abzweig, aber der kommt nicht. Gurke dann eine halbe Stunde im Hinterland von Karystos kreuz und quer, um irgendwie immer wieder an der gleichen Kreuzung herauszukommen. Der Erfinder des Labyrinths war ja auch Grieche ... Schließlich nehme ich die Straße westlich aus Karystos hinaus, und biege bei Alamaneika nach Kokkali und Grambia ab, nähere mich dem kahlen Burghügel mit der roten Kastellkrone von Westen. Die Straße zickzackt hinauf und endet ein gutes Stück unterhalb der Burg. Und wieder mal stelle ich den Mietwagen im Schattenlosen ab. Halb drei ist es inzwischen, und ordentlich warm.
Das untere Tor zur Burg ist offen, ein gepflasterter Treppenweg führt von dort durch ein Wäldchen dünner windschiefer Kiefern bis zum Burgtor, das ebenfalls geöffnet ist.
Die Burgruine ist unheimlich weitläufig, und ich bin mal wieder alleine auf weiter Flur. Steige hoch bis zum höchsten Punkt, wo eine kleine Kapelle des Profitis Ilias steht. Profitis Ilias? Na, dann schnell eine SMS zu den inzwischen nach Kimolos Weitergezogenen.
Die Kastellmauern sind lückenhaft wie ein schadhaftes Gebiss.
Die Aussicht von hier ist ziemlich genial. Was erklärt, dass ich verpasse, nach dem Aquädukt zu gucken, dass von der Rückseite des Burgbergfußes Richtung Berg Ochi hochlaufen soll. Östlich liegt direkt das Dorf Myli, und mit dem Fernglas kann ich die Säulen ausmachen. In der Bucht von Karystos liegen eigentlich immer Frachter, die im Wasser zu schweben scheinen. Außerdem kann man gut die Rasterstruktur von Karystos erkennen.
Hinter mit steigt das Bergmassiv des Ochi in die Höhe, die Westflanke mit Windrädern bestückt. Eigentlich alles ganz nah. Eigentlich.
Ich genieße noch eine Weile Aussicht und Sonne ehe ich wieder zum Auto hinabsteige und ins Hotel fahre. Direkt über Myli - irgendwo wäre da doch eine direkte Verbindung gewesen.
Das Meer hat 26° C - so schnell kann es sich um diese Jahreszeit aufheizen. Aber es ist heute trübe und aufgewühlt, der Südwind ist schuld.
Gegen sechs Uhr bummle ich in die Stadt, die noch in träger Mittagsruhe liegt. Der nette Löwe auf der Säule am oberen Ende der Platia Amalias, die "Auslage" in der Metzgerei, die große Kirche Agios Nikolas an der oberen Querplatia, über der das Rathaus thront. Alles verschlafen, das Leben spielt sich an der Paralia ab.
Ich gehe im Reisebüro von SET vorbei und frage Nikos nach der Buchungslage für die Dimosaris-Schlucht am Samstag. Sieht schlecht aus, aber genau wüsste er es erst morgen. Da komme aber erst mal einen Schlechtwetterfront. Na, das ist vielleicht übertrieben, aber für morgen ist Südwindwetter mit Wolken und vielleicht sogar Regen angesagt.
Dann spaziere ich zum Sonnenuntergang entlang der Mole. Der präsentiert sich heute nicht so glutrot wie gestern, sondern in zerfleddertem Rosa, das schnell in Blau übergeht. Die Mole wird von den Einheimischen gerne für einen Abendspaziergang genutzt, ich staune, wie viele hier mit Partner, Kind, Hund oder Fahrrad vorbeipromenieren. Der Blick auf die Häuserreihe der Stadt vor dem Berg Ochi hat auch was.
Heute Abend esse ich im Hotel. Die Briten hatten gesagt, das Essen sei gut dort. Nun weiß ich nicht, ob Briten als Maßstab griechisches Essen gelten können, aber ich hab nach der Rückkehr ins Hotel keine Lust, nochmals loszuziehen.
Ich sitze am einem der Frühstückstische auf der Terrasse zum Park. Wie immer hier ist der Service sehr freundlich und aufmerksam. Ich bestelle Biftekia, die in einer eher überschaubaren Portion mit Bratkartoffeln und Senfsaucetropfen kommen. Sie schmecken sehr gut, und ich werde auch satt. Dazu ein Viertel Rotwein. Der schlägt auf der Rechnung mit stolzen fünf Euro zu Buche, keine Ahnung ob das ein Fehler oder normal ist. Hab auch keine Lust, nachzufragen, die Gesamtrechnung ist mit 15 Euro durchaus im Rahmen.
Müde sinke ich ins Bett. Wenn das Wetter morgen schlechter wird, dann kann ich mal zu den Drachenhäusern bei Styra fahren.
*
Tatsächlich zeigt sich der Himmel am nächsten Tag wolkenverhangen und grau. Schön, auch mal einen Tag nicht zu schwitzen. Wie geplant werde ich heute nach Styra zu den dortigen Drachenhäusern fahren. Sie liegen weniger abseits als das auf dem Ochi, und das kommt mir entgegen, weil ich heute überhaupt keine Wanderlust habe.
Ich fahre auf der Schnellstraße nach Westen. Auf der Hochebene von Choni säumen steinverarbeitende Betriebe die Straße - geschichtete Steinplattenstapel aus extrem widerstandsfähigen Karystou-Quarzit, der in grün, blau und braun vorkommt und vor allem für Terrassenplatten (die unregelmäßigen Platten sieht man oft auf den Kykladen) und Vertäfelungen beliebt ist. Der Quarzit wird bei Agios Dimitrios nördlich von hier abgebaut. Ob ich mir damit meinen Balkon pflastern kann?
Kurz darauf wird die Straße zur Panoramastraße mit Aussicht auf die Küste und zu den vorgelagerten (unbewohnten) Petalii-Inseln. Und da kommt mir auch der bereits erwähnte Windradtransport entgegen.
Wenig später blockiert eine querende Ziegenherde die Straße. Ein LKW, der aus der Gegenrichtung kommt, bremst aber nicht für Tiere, im Gegenteil: er gibt eher Gas, die Hornträger flüchten über die Straße. Aber die Ziegenschlange ist lang, und der nächste Lastwagen lässt die nachfolgenden Ziegen, eine überaus hübsche Rasse mit langen, korkenzieherähnlichen Hörnern, passieren ohne dass es Opfer gibt.
Die Straße schlängelt sich entlang der Berge und Windräder, es ist wenig Verkehr. In Kapsala weist ein deutschsprachiges Schild links auf ein Heimatmuseum hin, wenig später rechts ein Hinweis auf ein Drachenhaus. Das von Kapsala soll allerdings nicht sehr gut erhalten sein, und so stoppe ich nicht.
In dem Dörfchen Styra zwingt ein mäßig sinnvoller Kreisverkehr den durchfahrenden Verkehr zu einer Extrarunde um die Dorfplatia, an der es einen guten Bäcker, eine preiswerte Tankstelle und ein nettes Kafenio gibt. Die griechische Variante einer Autobahn-Raststelle (gut, ist hier keine Autobahn, aber fast).
Links zweigt die Straße zur Küste nach Nea Styra ab, ich bleibe aber oben und fahre langsam, damit ich die Abzweigung zu den Drachenhäusern rechts nicht verpasse, die jetzt bald kommen muss. Das kleine Schild kann man auch leicht übersehen. Die Straße ist zunächst noch gut, wird aber nach der übernächsten Abzweigung - glücklicherweise beschildert - bald schlechter. Ich habe keine Ahnung, wie weit es ist und parke das Auto nach einer engen Rechtskurve an einer kleinen Plattform mit Ausblick. Merke aber nach hundert Metern zu Fuß, dass ich doch noch weiter muss. Also zurück zum Auto und schön langsam auf der Holperpiste weiter. Bin ich inzwischen ja schon gewohnt. Ein, zwei Kilometer später werden die Löcher in der Piste zu groß, ich wende und parke das Auto am Rand. Weit kann es ja nicht mehr sein.
Ich bin gerade zwanzig Meter gelaufen, da überholen mich zwei Taxis, die ihre Fahrgäste - ausländische Teilnehmer einer Wandergruppe - dann aber auch absetzen. Schnell weiter, während die Gruppe sich sammelt - das ist ja schon Massentourismus ... ;-)
Die Piste ist von Heidekraut und Erdbeerbäumen eingesäumt, mit violetten Disteln zu Füßen. Und kurz darauf ist sie zu Ende. Von einer Art Parkplatz (für unerschrockene Fahrer und wanderunwillige Griechen) führt ein schmaler Weg aufwärts durch Wald und Gebüsch. Zwei junge Paare aus Polen, die Frauen im leichten Hängerkleidchen mit Flipflops - eventuell hatten sie den Tag doch eher für den Strand geplant - tun sich schwer mit dem Weg, aber es sind nur wenige Minuten bis zu einem kleinen Absatz, auf dem drei Steinhütten stehen: die Drachenhäuser (sogenannten Palli-Lakka-Drachenhäuser). Uralte Häuser (oder Hütten), ohne Mörtel aus großen, zugehauenen Steinen (Karystos-Schiefer) errichtet und wie um einen Hof aufgebaut.
Die zwei davon am rechten und linken Rand des Hofes sind langgestreckt und niedrig, das Dach ist offen wie der Schlitz eines Sparschweines. Das dritte Haus steht oberhalb, ist etwas höher und rund wie ein Trullo. Alle drei Häuser kann man je durch einen niedrigen Eingang betreten.
Das Ensemble wirkt rustikaler und einfacher gebaut als der Haus auf dem Ochi. Hier, in dieser weniger exponierten Lage, die auch noch am Fuße eines Steinbruches liegt, kann ich mir einen profanen Zweck eher vorstellen als auf dem Gipfel des Ochi.
In der Nähe liegen auch die Ausgrabungen einer antiken Stadt auf einem niedrigen Hügel sowie auf der jetzt von Wolken verhangenen Bergkette die Ruine der Burg von (L)Armena. Ich nehme aber den steinigen Weg, der hinter den Drachenhäusern steil den Hang hinaufführt. Die Polen kommen mir entgegen gestolpert, sie haben es geschafft, sich in ihrem unpassenden Schuhwerk nicht die Beine zu brechen. Respekt. Ich bin froh an meinem Wanderstock, auch wenn es nur zehn Minuten zum antiken Steinbruch hinauf sind. Aus den Schutthalden wachsen vereinzelt Alpenveilchen, für mich die Herbstboten an der Ägäis schlechthin. Na, das Wetter ist heute auch wirklich herbstlich, wenn auch nicht kalt. Eher schwül. Und der Himmel drückt jetzt sogar ein paar Tropfen heraus.
Die Küste liegt unten im hellen Licht, nachtschwarze Schatten darüber. Könnte noch ein Gewitter geben.
Ich steige wieder hinab zu den Drachenhäusern, die inzwischen von der Gruppe besichtigt werden. So wanderträchtig sehen die doch nicht aus, eher eine Exkursion. Schnell sind sie wieder weg, vielleicht wandern sie jetzt nach Styra hinab.
Ich nehme das Auto, hoplere auf der Piste zurück zur Straße und drehe eine kleine Runde zu Fuß durch Styra. Das Kafenio sieht nicht soo einladend aus, aber beim Bäcker gibt es leckere Käsekringel und süßes Dauergebäck. Guter Proviant. Es ist Mittag, Schüler sind überall an der Straße entlang unterwegs. Schon Schluß für heute? Ist doch gerade mal zwölf Uhr. Aber es ist ja auch Freitag - Wochenendbeginn.
Und was mache ich jetzt mit dem begonnen Tag? Hinab nach Nea Styra. Was essen und vielleicht baden. Das Wetter ist unten an der Küste wesentlich freundlicher, auch wenn die Sonne sich schwertut. Sofort fällt mir wieder die entspannte Atmosphäre auf. Rentner planschen im flachen Wasser oder sitzen tratschend im Cafe. Zwei Handwerker streichen eine Hausfassade. Der Supermarkt offeriert einen hervorragenden Raki in der Plastikflasche, und auch der lokale Wein ist gut.
Die Tische der Tavernen sind noch leer, aber nach einmal die Promenade rauf und wieder runter habe ich Hunger. Ich wähle "Nikos" an der südlichen Paralia, eine gute Wahl, auch wenn es eigentlich eine Fischtaverne ist und ich keinen Hunger auf Fisch habe. Die deutschsprechende Bedienung offeriert die Tagesessen, unter anderem gefüllte Zucchini mit Zitronensauce. Da kann ich nicht nein sagen, und die schmecken absolut köstlich. Mit Brot, Limo und Wasser bezahle ich 9 Euro 50 und sitze noch eine Weile im sich zunehmend füllenden Lokal. Sind in Österreich schon wieder irgendwo Ferien, oder wo kommen plötzlich die Touristen mit österreichischem Zungenschlag her?
Ich hab keine rechte Lust, hier zu baden, auch wenn der Sandstrand flach und absolut einladend ist. Aber etwas zu sehr unter Beobachtung der Feriengäste. Vielleicht ist es in der Bucht von Nimborio, die ein paar Kilometer südlich von Nea Styra liegt, besser. Also wieder hinauf in die Berge, nach Styra. Das Benzin an der lokalen Mini-Tanke kostet hier 1,59, billiger als in Karystos.
Dann verpasse ich aber die Abzweigung nach Nimborio. Soll ich zurück?
Nein, denn inzwischen habe ich ein anderes Ziel: Südwestlich von Karystos am Kap Paximadi habe ich vor über zehn Jahren bei der Passage mit der Fähre ein rätselhaftes Straßenlabyrinth gesehen, dass sich - ähnlich dem bei Metochi - ohne sichtbaren Sinn und Zweck über eine große Hangfläche erstreckt. Im Mai beim Rückflug von Milos war es mir wieder aufgefallen. Theo hatte anhand der Bilder bei GoogleEarth etwas von Windrädern gemutmaßt, aber das hat es dort keine.
Deshalb möchte ich mir dieses Mysterium gerne von nahem ansehen und fahre zurück nach Karystos, wo ich am Ortseingang rechts zum Strand westlich der Stadt abbiege. Der ist unglaublich weitläufig, aber zum Baden lädt er nicht mehr ein, denn der Wind hat aufgefrischt und der Himmel ist noch grauer geworden. Ein Durchfahrtsverbotsschild bei einer Bootswerft zwingt mich zu einer kurzen Irrfahrt bis ich es dann doch ignoriere. Ich überquere einen kleinen Fluss und sehe draußen im Golf von Karystos eine kleine Insel mit Kapelle liegen: Agia Pelagia. Irgendwo auf der rechten Seite gibt es die Ausgrabungen von Plakari.
Strandabschnitte (Galida, Livadaki, Katsouli) wechseln nur mit Landzungen und Felsenkaps ab, alles wirkt recht verlassen. Das Badewetter hat sich endgültig verzogen.
Noch ein Stück, und ich sehe das Labyrinth: parallele Straßen, die sich bar lediger Bebauung entlang des Hanges schlängeln. Nein, ein paar Häuser kann ich doch ausmachen, sie verschwinden aber fast in der Weitläufigkeit der Anlage. Strommasten sind auch da, und sogar Straßenschilder: Salaminas, Odos Nr. 35 und 34. Und ein Schild zu einer Kantina, das neueren Datums scheint. Doch etwas Leben hier?
Die weitere Fahrt löst keine der Fragen, die sich mir stellen. Warum nur dieser Schwachsinn?
Ich kurve ziel- und planlos hügelauf und -ab, muss ab und zu umdrehen weil eine Straße plötzlich endet oder die Natur sich ihr Revier zurückgeholt hat und durch die Asphaltdecke drängt. Noch nicht mal ein Auto außer meinem kurvt durch diese ominöse Teststrecke.
Oberhalb der Südspitze des Kaps endet eine Straße, unten an den Felsen baden zwei Männer nackt. Ja, das ist hier sicher ein guter Platz für FKK. Ich halte mich weiter westlich und überquere einen niedrigen Bergrücken. Da hört das Wirrwarr keineswegs auf, im Gegenteil: es wird großflächiger, steigt weiter hinauf. Hier mal ein Haus, und schon 500 Meter weiter das nächste. Feriendomizile? Vermutlich. Aber wer will hier wohnen, ohne jede Infrastruktur?
Wieder Straßenschilder: Ellinon Axiomatikon. Irgendwas mit griechischen Offizieren? Ob das die Lösung ist? Eine große Tafel, die das Rätsel lösen könnte, ist nur noch Stückwerk. Niemand da, den ich fragen könnte.
Aber in einer tiefen Bucht sehe ich einen hübschen Badeplatz, am Ende einer steilen Straße gelegen. Dort fahre ich hinab, freue mich auf ein textilfreies Bad im Meer. Aber unten steht ein Jeep, und auf dem Wasser ist ein Kaiki vertäut. Der Jeep scheint aber leer, und das Kaiki auch. Also schnell raus aus dem Klamotten und rein ins flache Meer. Wunderbar, auch wenn der Wind weiter aufgefrischt hat und mich schnell zum Handtuch greifen lässt als ich wieder an Land bin. Danach ein Spaziergang entlang des Sand-Kies-Strandes. Grüne, ockerfarbene und blaue Steine glitzernd wie Juwelen im Wasser. Es ist echt schön hier.
Und die Insel weit da draußen, das könnte Kea sein. Oder Makronissos?
Als ich zum Auto zurückgehe, sehe ich, dass in dem Jeep doch jemand sitzt. Gut, dass ich ihn nicht vorher gesehen habe, sonst hätte ich wohl auf das Bad verzichtet. Passt schon.
Ich kurve wieder zurück, ostwärts, und werde beim Fotostopp vom Wind zerzaust. Unter mir liegt nun die Ostseite des Kaps, mit dem Strand von Agia Paraskevi, ein paar Häusern und der Kantina. Ob die wohl offen hat? Ich könnte eine belebendes Getränk brauchen. Ein Auto steht dort, und kurz darauf stelle ich meines daneben ab. Betrete die überdachte Terrasse der Kantina und stöbere einen jungen Mann auf - der Wirt. Ich ordere einen Frappé und gucke mir dann den hübschen Strand samt Sonnenschirmen und -liegen an. Zwei Haubenlerchen hüpfen über den Sand, sind aber die einzigen Strandgäste.
Aber endlich habe ich jemand, den ich nach dem mysteriösen Straßennetz fragen kann.
Der junge Wirt kennt des Rätsels Lösung: der griechische Staat hat (offenbar schon vor längerer Zeit und lange vor der Krise) diese Parzellen samt Straßen, Strom, Wasser und Abwasser für Ruheständler des griechischen Militärs zur Verfügung gestellt. Sie sollten hier Sommersitze und Ferienhäuser bauen. Offenbar ist es - typisch griechische Realität - aber bei der Erschließung und ein, maximal zwei Dutzend Häusern geblieben. Die nette Dame an der Rezeption meines Hotels wird mir später noch erklären, dass hier ein zweites Karystos mit Platz für 5.000 Menschen hätte entstehen sollen. Tja, was soll man da sagen? Ein bißchen Größenwahn kann man den Griechen gelegentlich nicht absprechen...
Mit dem Frappé, das war keine so gut Idee, denn das eiskalte Getränk lässt mich in Kombination mit dem immer stärker werdenden kalten Wind frösteln. Die griechische Kleinfamilie, die mit dem Auto angefahren kommt, hat sich den Nachmittag am Strand sicher auch anderes vorgestellt. Der Winter kommt.
Zeit, sich ins Warme zu begeben. Zuerst ins Auto, und damit zurück nach Karystos. Zum Glück ist der Weg dorthin ausgeschildert, sonst wäre es eine Irrfahrt geworden.
Am Abend ist die Stadt brechend voll. Als gäb es etwas umsonst, aber es ist nur ein normaler Freitagabend. Ich gehe zum Abendessen wieder ins "Cavo d'Oro". Zum draußen Sitzen ist es zu kühl, aber drinnen hat man auch einen guten Blick auf das Kommen und Gehen der Gäste und die Essensauswahl. Ich wähle Fava und Käse in Blätterteig mit Sesam und Honig. Die Fava ist reichlich, aber etwas fad, der Käse ordentlich. Und wie vor vier Tagen scheint der Wirt alle Gäste - Italiner, Deutsche, Österreicher, Franzosen - zu kennen.
Meine letzte Hoffnung auf die morgige Dimosaris-Durchwanderung hat sich zerschlagen. Von Evia Adventure Tours habe ich nichts mehr gehört und bei SET hat es zu wenig Anmeldungen. Das Wetter sei auch nicht sicher, zum Wochenende solle es mächtig Nordwind geben. Schade. Sehr schade, aber ich hatte es schon befürchtet.
Vielleicht kann ich morgen trotzdem einen Blick in die Schlucht werfen. Ich werde es probieren.