Proti Maïou sta Antikythira

Ich bin früh auf am 1. Mai. Trinke auf dem Zimmer einen Kaffee, dazu ein Tsoureki. Frühstück gibt es im Hotel erst ab acht Uhr, und da möchte beziehungsweise muss ich schon am Hafen von Kissamos sein: Die "Sporades Star" fährt um Viertel nach acht. Die zwei, drei Kilometer zum Hafen werde ich zu Fuß gehen, marschiere um Viertel nach sieben los. Vorbei an einem kleinen Hafen - früher der Hafen von Kissamos - mit Fischerbötchen und Taverne, und an der Kapelle Agios Ioannis Prodromos mit Gebäude und Höhle. Für einen Blick hinein reicht die Zeit auch noch: zweidimensionale Figuren zeigen die Kreuzigung. Ganzjährig, oder nur jetzt vor Ostern?

Kurz darauf habe ich den mit grauen Wolken überhangenen Hafen von Kissamos mit der "Sporades Star" vor mir. In der kleinen Werft vor mir werkeln Männer schon an ihren Kaikia. In einem weiten Bogen, vorbei an den Ausflugsschiffen, geht es zum Fähranleger. Eine halbe Stunde in strammem Schritt habe ich gebraucht.

Fährstreiks zum 1. Mai sind in Kissamos kein Thema, die Fähre steht abfahrtsbereit.

 

Mir ist ja immer noch etwas unwohl ob des nach wie vor kräftigen Windes - wird das mit dem Anlanden auf der Kleininsel klappen? Obwohl ich weiß, dass ich keine verbindliche Antwort bekommen werde (die gibt es in solchen Fällen nie), frage ich die Frau von der Besatzung an der Ladeklappe, ob sich das Anladen auf Antikythira als schwierig erweisen könnte für meinen Tagesausflug? Ja, man müsste ja gleich zweimal anlegen, und da wüsste man nie ... Ich beschließe, mich nicht ins Blockshorn jagend zu lassen. Das erste Anlegemanöver dürfte schwieriger sein, da der Wind am Nachmittag abflauen soll. Wenn das nicht klappt, fahre ich eben nach Kythira. Oder gleich nach Gythio. Und betrete das Schiff.

 

18 Euro zwanzig habe ich für die Tickets hin und rück bezahlt. Man kann auch mit Seajets preiswert unterwegs sein, zumindest wenn es sich um eine der staatlich subventionierten Routen handelt, die Seajets mit älteren, herkömmlichen Fähren bedient. Etatmäßig wäre ja die "Aqua Jewel" hier unterwegs, aber seit sie im Februar vor Kythira eine Kollision hatte, ist sie in Syros in der Werft und die "Sporades Star" vertritt sie. Baujahr 1975 und mit diversen Vorleben unter anderen Namen und in anderen Revieren. Egal. Der Fahrplan war eine Hängepartie, wurde trotz der reiselustigen Karwoche erst letzte Woche veröffentlicht. Und bei Seajets weiß man auch nie, ob sie nicht von jetzt auf nachher aus einem Vertrag aussteigen, wie Anfang des Jahres mit der Route auf der Westägäis geschehen, als die "Sporades Star" - vielmehr deren unseriöse Besitzer - die Leute von jetzt auf nachher sitzen ließ. Ich vermeide Seajets wo immer möglich, aber habe hier keine Wahl wenn ich nach Antikythira will.

Das Schiff legt pünktlich um acht Uhr 15 ab, ich habe mir einen Platz im spärlich besetzten Inneren für die gut zweistündige Überfahrt gesichert. Die Strecke entlang der Halbinsel Gramvousa kenne ich ja schon. Nach eineinhalb Stunden gehe ich aufs Deck, und tatsächlich ist Antikythira (das t wird weich gesprochen: Adikýthira oder Andikýthira) in Sicht: ein höherer Felsen mit dem hohen Leuchtturm von Apolitara am äußersten südlichen Ende. Außerdem hat die Sonne es geschafft, die Wolken zu verdrängen. Das wird ein perfekter Erster-Mai-Ausflug!

 

Mit reichlich Abstand geht es entlang der Ostküste, und schon habe ich den Eindruck, die Fähre würde vielleicht doch nicht hier anlegen, da sie in strammem Tempo nordwärts hält und die Insel schon beinahe passiert hat, da dreht sie doch noch bei und steuert in die tiefe Bucht auf der Nordseite der Insel. Es ist Viertel nach zehn, wir sind fast pünktlich. Die unvermeidliche Durchsage treibt mich nach unten obwohl noch genug Zeit auf Deck wäre. Ich will den Betrieb ja nicht aufhalten. Oder den Landgang verpassen.

 

Zwei SUV stehen zur Ausfahrt bereit, und daneben zwei, drei Männer mit langen Etuis über den Schultern. Gewehre? Nein, zu kurz, es wird sich um Angeln handeln. Antikythira gilt als Dorado für Angler. Rechts der Ladeklappe liegen die Pakete und Kisten für die Insel, die sich Kreta kulturell stärker verbunden sieht als der Peloponnes. Wie die Mutterinsel Kythira gehört Antikýthira (ta Antikýthira - Plural sächlich, früher Tsirigoto) zu den Ionischen Inseln, wird aber im fernen Piräus verwaltet, neun Fährstunden entfernt. Was diese hoch subventionierte Fährlinie am Leben halten dürfte.

 

Dann öffnet sich die Klappe und gibt den Blick frei auf den kleinen Hafen- und Hauptort Potamos: Zwei Dutzend weiße Häuser, eine Doppelkapelle. Darüber das E-Werk. Am Anleger stehen 15 Leute und erwarten uns. Das muss schon fast die Hälfte der aktuellen Bevölkerung sein, die der Census 2021 mit 39 angibt. 2011 waren es noch 59 (überweigend ältere), und um dem Bevölkerungsschwund entgegenzuwirken, hat die Gemeinde 2019 ein Programm gestartet, das zuwanderungswilligen Familien mit Kindern 500 Euro im Monat bezahlt. Das scheint aber nicht geklappt zu haben, was mich nicht wundert. Für Inselträume ist hier wenig Platz, man braucht Arbeit und Sprachkenntnisse, muss auf der anderen Seite die Ansprüche herunterschrauben. Leicht ist die nur zwanzig Quadratkilometer kleine Insel tagelang von der Außenwelt abgeschnitten wenn die sowieso schon fragile Fährverbindung wetter- oder technikbedingt ganz ausfällt, es gibt wenig kulturelle Ablenkung, nur eine kleine Gesundheitsstation, und Arbeit vor allem für Fischer und Bauern. Und die mangelnde Privatsphäre einer so kleinen Gemeinde muss man auch verkraften können.

Fünf Minuten später - ein Mann der Besatzung hat mir gerade noch das Fotografieren verboten, warum auch immer - gehe ich an Land. Und gucke erst mal von der Seite dem Trubel des Ab- und Beladens zu.

Mein erster Eindruck: die Insel ist ziemlich männlich. Mein zweiter: es hat mehr Menschen als erwartet, die nun konzentriert in Aktion treten und Pakete ent- und beladen. Das müssen sie auch, denn drei Minuten später legt die "Sporades Star" schon wieder ab. Bis heute Abend! Hoffentlich.

 

Der dritte Eindruck: es gibt hier kein Netz. Außer für die Fischerei natürlich, in dem kleinen geschützten Hafen hinter dem Anleger. Kein Signal fürs Internet, zum Telefonieren reicht es hier gerade noch. Ich packe also das Smartphone gleich wieder ein und verzichte darauf, meine heutigen Wege zu tracken. Wohin sie mich führen, davon habe ich nur eine ungefähre Ahnung, denn Informationen über Antikythira im Internet sind spärlich, und ich habe nur eine halbwegs brauchbare Landkarte und Info auf www.kythira.info gefunden. Was man aber immer findet, wenn man nach Antikythira sucht, ist der "Mechanismus von Antikythira", eine astronomische Uhr aus dem 1. Jahrhundert vor Christus, die im Jahr 1900 von Schwammtauchern in einem versunkenen Wrack vor der Nordostküste der Insel gefunden und erst später entschlüsselt wurde. Eine Sensation, die sich heute im Archäologischen Nationalmuseum von Athen befindet, aber mit dem heutigen Antikythira eigentlich nichts zu tun hat. Außer dass ich mich erinnere, dass wir auf Kythira 2010 eine Ausstellung dazu angeguckt hatten, und der Aufseher dort sagte, Antikythira wäre "horrible", also fürchterlich. Er müsse das wissen, denn er wäre von dort. Und von Tagesausflügen hat er dringend abgeraten. Egal, manchmal muss man das ignorieren.

Das Meer um Antikythira soll übrigens übersät mit Schiffswracks sein. Ein gefährlicher Seeweg.

 

Dann gucke ich mir den "Horror" mal an. Was ich sehe, ich das Gegenteil davon: ein beschaulicher Ort, der sich am Ende der tief eingeschnittenen Hafenbucht hochzieht. Vielleicht liegt es daran, dass wir die Karwoche haben, oder am 1. Mai: Potamos zeigt sich viel belebter als erwartet. Rechts oberhalb der Bucht entdecke ich das Kafenio-Pantopolio "Ta Kythira", das auch Poststelle ist. Hier müsste sich doch später oder am Abend etwas zu Essen kriegen lassen.

Außerordentlich sind auch die breiten Kapernbüsche, die man im Ort offenbar nicht aberntet, denn sie sind mit Blüten überzogen. Eigentlich wollte ich gucken, wo mein gebuchtes Quartier "Filia" gewesen wäre, aber das vergesse ich über den Kapern dann glatt. Müsste hier irgendwo sein.

 

In einer Schleife an der unteren Kapelle vorbei komme ich in den östlichen Ortsteil, wo ich das Lokal "I Gonia tou Stratou" ausmache. Tischchen und Stühle stehen draußen, die Türe ist offen, aber niemand zu sehen. Ein Hinweis auf ein öffentliches WLAN, ich logge mich ein und habe auf den nächsten zwanzig Metern ein schwaches Signal, etwa bis zur Krankenstation. Ansonsten scheint mir Antikythira geeignet zum Digital Detox.

Ich werde nun entlang der Bucht nach Norden gehen bis zur Kapelle des heiligen Nikolaos. Dann auf der anderen Seite hinab zum Strand von Xiropotamos und dann hinauf nach Kastro, einer verlassenen Siedlung, die auf antiken Fundamenten steht.

Ich folge einem Fußweg und bevor ich sie sehe, höre ich schon das charakteristische Zwitschern der Bienenfresser, die um ein Dutzend Bienenstöcke kreisen. Fast Food für die bunten Vögel sozusagen, und hier muss unbedingt erwähnt werden, dass Antikythira natürlich den besten Honig hat. ;-)

 

Die Bienenfresser werden mir auch auf anderen Inseln in diesem Urlaub noch begegnet, aber Antikythira ist ornithologisch besonders interessant. Hier gibt es die weltweit größte Brutkolonie an Eleonorenfalken, um die 1300 Paare. Die von mir besonders bewunderten Flugkünstler, die in Madagaskar überwintern und erst im Spätsommer brüten weil dann die Zugvögel durchkommen, haben auch für eine andere lokale Besonderheit gesorgt: das Andikythira Bird Observatory, das einzige ständige Vogelobservatorium Griechenlands, das die Hellenic Ornithological Society hier betreibt. Man kann hier als Volontär arbeiten, und vielleicht ist das mal was für meinen (leider noch fernen) Ruhestand. Neben den Eleonorenfalken, die aber offensichtlich noch nicht aus Afrika zurück sind, denn ich werde hier keinen sichten, wurden noch 222 andere Vogelarten auf Antikythira gezählt. Wirklich beachtlich!

Und beim Stichwort Vogelbeobachtung muss ich dann prompt an Achim denke, den vor eineinhalb Jahren verstorbenen, großen Freund der griechischen Insel- und Vogelwelt. Ich glaube, nach Antikythira hat er es nie geschafft.

 

Nach zwanzig Minuten ist die blaugedeckte Kapelle des Schutzpatrons der Seeleute erreicht. Der Wind zerrt an dem zerfledderten Flaggenrest davor, die Türe ist unverschlossen, aber das Innere nicgts besonders. Egal, das besondere hier ist der Blick auf die Bucht von Potamos, was übrigens "Fluss" heißt, weil ein solcher - oder ist es eher ein Bach? - den Ort Potamos saisonal durchzieht und sogar mal eine Wassermühle angetrieben hat. Die Siedlung ist wirklich nicht groß.

 

Über den Hügel führt eine befestigte Straße in zehn Minuten hinüber ist Nachbartal, das am Strand von Xiropotamos mündet. Das soll einer der besten Strände der Insel sein. Vorne grober Kies, am Ufersaum Sand. Völlig schattenlos. Meine Badelust ist überschaubar, auch wenn das Tal windgeschützt liegt. Lieber möchte hinauf nach Kastro, der hellenistischen Festung, die im 4. Jahrhundert vor Christus erbaut wurde. Wobei die Ruinen, die ich von unten sehen kann, aus viel späterer Zeit stammen (19. Jahrhundert), denn die Römer zerstörten 69 vor Christus die Stadt komplett um der von dort ausgeübten Piraterie Einhalt zu gebieten. Mein Besuchsversuch scheitert aber, denn der schmale Fußweg hinauf ist lose und teilweise abgebrochen. Ich bin hier völlig alleine, und habe auch kein Signal. Nicht der Zeitpunkt, ein Risiko einzugehen. Ich werde auf der Straße nach Potamos zurückkehren, denn allmählich habe ich Hunger. Hoffentlich ist dort etwas zu bekommen.

Weiter hinten im Tal stand einst ein Apollon-Tempel, was ich aber erst hinterher lese. Außerdem bin ich etwas müde und finde es tatsächlich zum ersten Mal in diese Urlaub etwas warm. Hat der Wind nachgelassen? Er hat, zumindest hier.

Oben trifft meine Straße auf die Hauptstraße in den Inselsüden. Vorher gibt es die Ruinen einer Windmühle, und einen Mast in einer kleinen Anlage. Eine Wetterstation? Und die örtliche Müllkippe ist hier auch gleich. An der Kreuzung gucke ich auf dem Hubschrauberlandeplatz. Links geht es in den Inselsüden, bis zum Leuchtturm. Das wird mir wohl zu weit sein, aber ich werde später mal so weit gehen wie im komme. Mindestens bis Agios Myronas, dem Kloster des Inselheiligen, wo die befestigte Straße endet.

 

Im Dorf steuere ich erst "I Gonia tou Stratou" an. Die Türe ist offen, eine Handvoll Männer sitzt darin, unterhält sich fröhlich lautstark in Feiertagslaune. Es ist sehr unaufgeräumt und so wird meine Frage, ob die Taverne geöffnet sei, mit freundlichem Gelächter beantwortet: Nein, erst später. Später am Tag? Nein, später im Jahr. Ich wünsche noch einen guten Tag und auch gleich Sommer, und gehe hinüber ins Kafenio-Pantopolio "Ta Kythira". Das ist geöffnet, wie ein Blick in die Multifunktionsstube ergibt, in der drei Männer sitzen. Gibt es überhaupt Frauen auf Antikythira? Kein Wunder haben sie ein Nachwuchsproblem ... Der Wirt namens Myronas wie der Inselheilige erwidert meine Frage nach Essbarem: er hätte Katsikaki me Patates, und wenn ich noch einen Salatoula wollte? Klingt hervorragend, und ich ordere, fehlgeleitet von der erhitzenden Wanderung - oder war es nur ein Spaziergang? - eine Limo und ein Bier dazu. Setzt mich draußen in die Ecke an einen der beiden Tische. Im Schatten, was auch ein Fehler ist. Am anderen Tisch sitzt ein Mann, offenbar ein ausländischer Arbeiter, er telefoniert in Fremdsprache. Schnell kommt mein Essen, Zicklein samt Knochen und Fett, der Salatoula ohne Feta, ein Teller Brot dazu. Es schmeckt und ist so reichlich, dass ich das Fettige vom Katsiki getrost übriglassen kann. Der Mann am Nachbartisch bekommt nur Salat und Patates, dazu ein Gläschen Hochprozentiges.

Ein griechisches Paar kommt, setzt sich drinnen hin. Tatsächlich griechische Urlauber, die hier die Ostertage verbringen. Wo sie wohl wohnen?

 

Aus dem Inneren kommt nun traditionelle Tanzmusik, und ein älterer Herr von kurzer Statur. Ich äußere mich anerkennend zur Musik, und habe damit ins Schwarze getroffen: wir kommen ins Gespräch. Ich kann es nicht fasse, aber er war tatsächlich Tänzer am bekannten Tanztheater Dora Stratou in Athen, das ich in vielen Jahren nie geschafft habe zu besuchen: Vorstellungen bis es von Ende Mai Mitte September. Nicht meine Athen-Reisezeit. Wir reden über griechische Tänze: 1500 verschiedene solle es geben, was ich geneigt bin zu glauben. Wie das denn in Deutschland wäre? Ich kann nichts entgegen. Und habe den Eindruck, dass der Senior mir meine Kenntnis griechischer Tänze nicht so recht abnimmt (typisch männliches Verhalten), auch als ich versuche, mit Insiderwissen nachzulegen. Aber darauf kommt es auch nicht an, denn er zeigt mir auf seinem Smartphone nun Videos, die ihn als Tänzer zeigen. Millimetergroß, kann eigentlich jeder sein. Ich zeige mich angemessen beeindruckt. Vielleicht hätte ich ihn zum Tanz auffordern sollen. Tanz in den Mai auf Antikythira - das wäre es gewesen. Wir schwätzen noch etwas, aber inzwischen bin ich an meinem zugigen Schattenplatz völlig ausgekühlt, und muss dringend in die Sonne.

 

Ich gehe hinein zum Bezahlen, 15 Euro werden fällig. Günstig hier. Die griechische Touristin ist kontaktfreudig, sie wäre zum ersten Mal hier, so wie ich, und ob es nicht wunderschön wäre? Sie hat recht, aber ich muss mir erst mal noch etwas mehr Insel angucken.

 

Ich steuere nun die untere der beiden Kapellen an, Agios Charalambos mit dem Friedhof daneben. Ein Pappas in zerschlissenem Gewand - die Ärmel sind aufgerissen, der Stoff löchrig - ist dort zugange, da will ich nicht stören und steige hoch zur oberen Kapelle, Agios Georgios. Die ist geöffnet, ein Mann ist darin tätig. Er muss für die bevorstehenden Osterfeiertage etwas richten, nimmt eine der Ikonen mit hinaus. Auch hier kommen wir ins Gespräch. Woher ich käme, wohin ich wolle, wie lange ich bliebe? Nach Kamarela? Er erklärt mir den Fußweg, entschwindet dann mit der Ikone. Ich bleibe noch auf der gemauerten Bank vor der Kirche und lasse mich von der Sonne aufheizen.

Dann steige ich hügelwärts gen Süden. An einem Haus mit merkwürdigen, langen Löchern im Boden - Gräber? - treffe ich wieder eine Straße und erreiche kurz darauf den Hubschrauberlandeplatz, den ich umrunde. Nach ihm biege ich in die Straße ein, die rechts abzweigt. Ich bin jetzt wieder auf der Hochebene, niedrige Ginsterbüschel erobern die Straße. Eine Streusiedlung liegt voraus, dahinter sehe ich den Gipfel des Plagára, den mit 378 Metern höchsten Berg der Insel mit einem Masten darauf. Das dürfte mir heute zu weit sein. Ich nehme erneut die Abzweigung nach rechts, vorbei an einem Ferienhaus mit Mittagsblumen im Vorgarten. Eine schlanke Kapelle mit blauer Kuppel grüßt aus der Entfernung über die Frygana.

 

Und dann stehe ich am Abgrund. Ein Bank vor einer Absperrung, und dahinter der Blick hinab nach Kamarela (nicht Karamela - hat nichts mit Bonbons zu tun): Eine beeindruckende Bucht, begrenzt von einem riesigen, dunkeln Felsentor auf der rechten Seite, vielleicht zwanzig, 25 Meter hoch. In dem natürlichen Becken das türkisgrüne Meer. Und links auch noch einige hohe Felsen. Einen echten "Beach" kann ich allerdings nicht ausmachen (ich dachte hier zu baden), aber viele Felsen. Ein gepflasterter ockerfarbener Zickzackweg führt rechts hinab zum Ufer. Ich zögere etwas, genieße zunächst die Aussicht. Es ist windig hier an der Kante, und der Wind ist laut. Aber ich gehe dann doch hinab, natürlich. Der Weg wird unten schlechter, und der Wind ist weg. Ruhe umfängt mich, göttliche Ruhe. Durch die Luft über mir flitzen Bienenfresser und Schwalben, oder sind es Mauersegler? Ihr Tschilpen ist ein willkommenes Geräusch auf der Vogelinsel

 

Meine Badepläne schminke ich mir ab als ich den felsigen Einstieg sehe - da hätte ich eher die Badeschuhe statt des Badeanzuges einpacken sollen. Aber hier unten sitzen und die Ruhe genießen - wunderbar! Schon alleine deshalb hat sich der Ausflug nach Antikythira gelohnt. Nein, natürlich sowieso. Dass es solche Inseln noch gibt, die nicht als ultimative Geheimtipps von Teilzeit-Aussteigern weiterempfohlen werden. Aber die wollen natürlich Sandstrand....

Irgendwann steige ich dann wieder hinauf zur Felsenkante. Ich will ja noch weiter, und es ist schon fast vier Uhr. Nein, kein Grund zur Hektik. Bis es dunkel wird, sind noch vier Stunden Zeit. Ich nehme an, auf dieser spärlich bewohnten Insel wird es auch richtig dunkel. Nicht die Lichtverschmutzung unserer Breiten.

 

Ich wandere zurück bis zur Hauptstraße und gehe auf ihr gen Süden. Da der Weg jetzt nicht mein Ziel ist, hoffe ich auf eine Mitfahrgelegenheit. Bei der Autodichte hier brauche ich dazu ordentlich Glück. Und jetzt, zur Siesta am Feiertag, sieht es gleich doppelt mau aus. Aber ich bin noch gar nicht so weit marschiert, da hält neben mir ein PKW und der Besitzer bitte mich hinein. Er würde zwar da vorne links abbiegen, aber ein Stück könne er mich schon mitnehmen. Vassilis heißt der nette ältere Herr, und er redet Englisch mit mir. Er zeigt mir im Vorbeifahren die ornithologische Station im ehemaligen Schulhaus - braucht man bei drei, maximal vier Schülern auf der Insel keines mehr. Und wenn doch, dann in Potamos.

 

Wenig später, kurz vor einer Kapelle, setzt er mich ab bevor er abbiegt. Ich solle unbedingt zum Kloster des heiligen Myronas weitergehen, das wäre nicht mehr weit. Ein Mäzen hätte die Kirche des Inselheiligen für viel Geld renovieren lassen. Danke, genau da wollte ich ja hin. Die weiße Kapelle mit blauen Zierleisten am Weg ist aber erst die der Heiligen Konstantin und Eleni. Das verschlossene Tor lässt sich leicht seitlich überwinden, und der Schlüssel steckt in der Türe. Ein sehr neues Interieur, und sehr gepflegt.

 

Die Straße steigt an, ein paar Häuser verteilen sich, die kaum als Ort zu verstehen sind. Sind aber einer, namens Galanianá, 15 Einwohner im Jahr 2011. Hühner und zwei prächtige Hähne streunen durchs hohe Gras, darüber festungsartige Mauern. Einst ein prächtiges Gebäude? Erst Ende des 18. Jahrhunderts soll die Insel von kretischen Zuwanderern wieder besiedelt worden sein. Vorher war sie zwar venezianisch, aber zu abgelegen und ungeschützt vor Piratenangriffen um dort sicher zu leben.

Am Straßenrand steht ein wunderbares Minotauros-Dreirad, trotz der korrodierten Karosserie haben die Reifen noch Luft, und ein Kennzeichen ist auch vorhanden. Ob der greise Herr, der mir später begegnet, damit nach Potamos fährt wenn er etwas braucht?

 

Gegenüber betrete ich nun den Innenhof des Klosters des heiligen Myronas. Erst hatte ich gedacht, es würde sich um den gleichnamigen Heiligen von Kreta handeln, der von 250 bis 350 auf Kreta lebte. Aber dem ist nicht so, es handelt sich um einen anderen heiligen Myronas, der 251 unter Kaiser Decius in Kleinasien zum Märtyrer wurde und vorher in Korinth lebte. So oder so: Während der unbesiedelten Zeit Antikythiras wurde von Jägern aus Kreta eine Myronas-Ikone in einer Höhle hier in der Nähe gefunden, und 1693 eine erste kleine Kapelle erbaut. Das Jahr steht so auf dem nagelneuen Schild an der Kapelle, und wer würde es dann bezweifen? Die jetzige Anlage ist aber späteren Datums, nach der Wiederbesiedelung im späten 18. Jahrhundert erbaut. Am 16. und 17. August wird das Panigyri mit Essen, Musik und Tanz gefeiert und Besucher strömen auch von den Nachbarinseln heran, übernachten in den Zellen der Anlage, oder im Freien.

 

Das Gotteshaus präsentiert sich mir auf einer betonierten und schattenlosen Fläche. Der Reeder, Mäzen und Wohltäter Athanasios Martinos hat es vielleicht etwas zu gut gemeint mit dieser Renovierung, die 2022 abgeschlossen wurde. Leider habe ich Pech, und die Kirche ist verschlossen. Ich umrunde die Kirche, betrachte den benachbarten Friedhof, und die Wildblumenpracht am Rande. Setze mich auf die gemauerte Umrandung um etwas auszuruhen.

 

Da kommt der Pappas mit dem verschlissenen Gewand die Treppe herunter, öffnet die Kirche und geht hinein. Na, wenn das keine Einladung ist! Ich folge ihm und betrete das Kircheninnere, das ebenso neu wirkt wie das Äußere. Der Pappas nickt mir wohlwollend zu. Ich zünde eine Kerze für Theo an - auf Antikythira war er nie, da kann ich nichts falsch machen. Und dann komme ich mit dem Pappas ins Gespräch. Ob ich zu Fuß gekommen wäre? Ob ich durstig wäre? Und dann stürzt er davon um mir Wasser zu holen. Kommt mit einer großen Supermarkttüte zurück, die nicht nur eine große Flasche kaltes Wasser enthält, sondern auch eine Packung Kräcker, einen Sesamriegel und eine Sokofreta-Waffel. Danke, aber das ist überhaupt nicht nötig! Ich habe aber keine Chance der Ablehnung und versuche nun, die Gaben in meinem Rucksack zu verstauen, was wegen des großen Volumens nicht ganz klappt. Woher ich käme, wie lange ich bleiben würde? Und dann macht er mir ein Angebt, das ich nicht ausschlagen kann: er würde um 18 Uhr mit dem Auto zurückfahren, und wenn ich so lange warten würde, könnte er mich mitnehmen. Das Angebot nehme ich gerne an, auch wenn ich dann noch eine halbe oder dreiviertel Stunde warten muss.

Ich setze mich wieder auf die Mauer, er ist in einer der Zellen - oder ist es eine Küche? - am Werkeln. Eine Frau hilft ihm dabei, eines der raren weiblichen Exemplare auf der Männerinsel. Ich schlendere nochmal um die Kirche, gucke hier, gucke da. Irgendwann kommt der Pappas, geht zu einem großen und neuen Auto, Marke Cupra, und öffnet mir die Beifahrertüre. Ich steige ein und los gehen gemächlich Fahrt und Konversation. Er erzählt, dass er nur von April bis Herbst auf Antikythira sei, und den Rest des Jahres in den USA, in Arizona. Da bin nun ich verblüfft. Dass viele Antikythirer (oder Antikythirioten?) im Winter auf Kreta oder in Athen leben, kann ich mir ja gut vorstellen. Aber gleich in den USA? Wer sich dann hier um die Gemeinde kümmern würde? Ab und zu käme der Pappas von Kythira. Gut, wahrscheinlich bleiben nur zwei Dutzend Menschen über den Winter hier, und an Weihnachten ein paar mehr. Da reicht eine halbe Stelle, und gewährleistet trotzdem eine hervorragende geistliche Versorgung im Verhältnis Pappas : Schäfchen = 1:80.

Jetzt, zu Ostern, sind es schon deutlich mehr Leute hier - da kommen die auch die auswärtigen Antikythirioten auf Besuch. Die "Sporades Star" fährt sogar einen Sonderfahrplan mit zusätzlichen Fahrten, wie ich am Morgen erst gesehen habe.

 

Irgendwann auf seine Frage erzähle ich, dass ich am Mittag in Kafenio Zicklein gegessen habe. Er ist tief erschüttert: Fleisch in der Karwoche? Wo er doch bei seinen Gaben extra darauf geachtet hat, dass die Nistisima sind, also geeignet für die Fastenzeit. Ach herrje, da habe ich ja einen üblen Fauxpas begangen*. Oder war es der Wirt? Ich erkläre Gioannis, so heißt der Pappas, dass wir in Deutschland ja schon vor über vier Wochen Ostern hatten. Ob ich katholisch sei? Die das Kreuz verkehrt herum machen? Nein, evangelisch, und wir machen gar kein Kreuz. Er betrachte mich nun doppelt erschüttert als Heidin und versucht, mich zum orthodoxen Glauben zu bekehren. Wenn ich doch so oft in Griechenland wäre, und mich für Land, Leute und Kirche interessieren würde. Er hätte da ein Buch, das würde er mir gerne geben. Ächz, tausche Mitfahrgelegenheit gegen Religion ... Aber Aussteigen ist nicht, da muss ich jetzt durch. Ungetauft, zum Glück.

Gioannis findet schließlich eine Möglichkeit, wie ich meinen Katsiki-Fehler abbüßen kann: um sieben Uhr wäre - wie jeden Abend in der Karwoche - Gottesdienst. In Agios Charalambos in Potamos. Da solle ich kommen. In der Kirche wäre es außerdem auch warm, und bis meine Fähre um 22 Uhr fahren würde, wäre er auch fertig. Ok, die Aussicht auf einen mehrstündigen Gottesdienst treibt mich nicht direkt in die Arme der Orthodoxie, aber die Idee mit der warmen Kirche gefällt mir. Ich bin nämlich eigentlich noch satt und will nicht unbedingt nochmals ins Kafenio. Und wenn die Sonne weg ist, wird es schnell kühl. Ich verspreche also zu kommen, zumal ich weiß, dass die Anwesenheit der Gläubigen in Griechenland nicht während der ganzen Messe verpflichtend ist.

 

Und dann sind wir endlich in Potamos, wo er mich am Hafen absetzt. Halb sieben ist es inzwischen. An dem kleinen Hafen ist die griechische Touristin von heute Mittag mit einer jüngeren Frau zugange, ihrer Tochter. Diese angelt und hat schon drei große Fische gefangen, putzt gerade den vierten unter Ignoranz der Ratschläge der Mutter. Die beiden kabbeln sich mit Humor. Ich gucke eine Weile zu, plaudere. Vassilis, der mich heute Nachmittag mit seinem Auto mitgenommen hat, kommt vorbei, steigt in sein Kaikaki um außerhalb der Hafenbucht zu fischen. Für acht Stunden auf der Insel kenne ich schon ganz schön viele Leute hier. Es ist schön, dass sie so freundlich und aufgeschlossen sind.

 

Über dem Hafen gibt es, wie ich jetzt erst sehe, eine kleine Anlage mit zwei Kanonen, drei Flaggenmasten, einem Ikonostasi und einem illuminierbaren Weihnachtsbaumgestell samt Stern obenauf. Ich gehe hinauf und gucke mir auch eine Marmortafel an, die an die Deportation der Inselbewohner durch die deutschen Besatzer am 7. Mai 1944: Die Bewohner - damals noch gut 200 - wurden beschuldigt, mit dem Widerstand und den Briten zu kollaborieren. Um dies zu verhindern wurden sie nach Kreta gebracht, wo ihnen die Kreter zum Glück Gastfreundschaft gewährten. Im September 1944 konnten sie nach Antikythira zurückkehren, fanden aber ihre Häuser geplündert vor.

Von der Kirche läuten nun die Glocken zum Gottesdienst. Ich habe es nicht eilig, hinaufzukommen, denn in Griechenland muss man nicht pünktlich zur Messe kommen. Als ich mir noch die Wassermühle in der Ortsmitte angucken möchte, kommt mir der Dora-Stratou-Tänzer entgegen. Frangiskos heißt er, und er möchte mich in den Gottesdienst bringen. Ob Papagioannis ihn geschickt hat weil er dachte, ich kneife? Wir gehen zur unteren Kirche hinauf, und hinein. Sieben, acht Menschen sind darin, und der Pappas schon an der Arbeit. Natürlich nun nicht mehr im löchrigen Arbeitskittel, sondern im richtigen Ornat. Frangiskos platziert mich in der ersten Reihe Mitte, und ich traue mich nicht an die Seite oder weiter nach hinten. Versuche nun, dem Gottesdienst insoweit zu folgen, als ich aufstehe wenn die anderen aufstehen, mich setze wenn sie sich setzen, und amín murmle wenn sie es tun. So etwas meditative Kirchengymnastik tut gut. Nur mit dem Kreuz schlagen, das lasse ich. Es kommen noch einige Gläubige, und ein paar gehen auch wieder, darunter Frangiskos. Als der Gottesdienst halb neun und damit früher als gedacht zu Ende geht, sind etwa zwanzig Personen versammelt, auch ein paar Frauen. Es gibt sie also doch auf Antikythira. Zur Osterzeit sind mehr Leute auf der Insel, auch Frangiskos pendelt zwischen Athen und Antikythira. Dass ich ihn in zweieinhalb Wochen in der Hauptstadt wiedersehen werde, wissen wir beide noch nicht.

 

Obwohl der Wind fast völlig nachgelassen hat, setze ich mich danach wieder runter an den geschützten Hafen und warte lesend auf die Fähre. Als immer mehr Leute zum Anleger kommen, kann sie nicht mehr weit sein - mein marinetraffic funktioniert mangels Netz nicht. Und tatsächlich, kurz vor 22 Uhr erscheint die festlich beleuchtete Fähre in der Hafenbucht. Ich verabschiede mich von Frangiskos und gehe an Bord. Außer mir noch zwei SUVs und ein paar Männer. Pünktlich um 22 Uhr hebt sich die Ladeklappe der "Sporades Star", vom Deck aus bleibt das beleuchtete Potamos zurück.

Ich setze mich in den Saloni, wo das Champions-League-Halbfinale Dortmund gegen Paris über die Bildschirme flimmert. Doch schon nach wenigen Minuten nicke ich ein. Es war ein langer Tag. Ob ich jetzt etwas verpasst habe, weil ich nicht mehrere Tage geblieben bin? Natürlich, denn so einiges habe ich nicht gesehen. Ob ich das bedauere? Nicht wirklich. Ob ich wiederkomme? Nicht ausgeschlossen.

 

Pünktlich um Mitternacht läuft die "Sporades Star" in den Hafen von Kissamos ein. Eigentlich hatte ich auf einen Lift in den Ort gehofft, aber da ich zu schnell von Bord bin, fahren die Autos in einer doch recht langen Schlange zügig an mir vorbei ohne dass eines hält. Alle haben die bevorstehenden Osterfeiertage im Kopf, und nach Mitternacht nimmt man auch keine Anhalterinnen mit, zumal auf schlecht beleuchteten Straßen. Das macht mir nichts, und nach 40 Minuten zügigen Gehens bin ich in meinem Hotel, wo das Zimmermädchen mit einer neuen Handtuchkreation aufwartet: einem Herz.

Es wird die letzte sein, denn morgen - vielmehr schon heute - verlasse ich Kissamos und Kreta.


* Mein lieber Bekannter Klaus, in westlicher Theologie ebenso versiert wie in orthodoxer, entlastet mich später: als Reisende sei ich vom strengen Fasten ausgenommen. Und sind nicht auch Urlauber Reisende?

 

PS. Auf ERT gibt es in der Reihe Νησιά στην Άκρη - Islands on the edge eine Folge über Antikythira.

Gedreht wurde sie im November 2023. Leider habe ich sie erst nach meinem Besuch dort gesehen.

https://www.ertflix.gr/en/vod/vod.382244-nesia-sten-akre-17  (kostenlos, Anmeldung erforderlich)