Wir stehen früh auf am Dienstagmorgen, denn wir wollen hinüber auf die Nachbarinsel Panarea fahren. Das Tragflügelboot fährt schon um 7.15 Uhr, Frühstück gibt es im Hotel leider erst ab 8 Uhr. Da werden wir eben auf Panarea frühstücken. Denkste: unten an der Bar treffen wir den Hotelwirt, der uns Kaffee und gefüllte Hörnchen anbietet. Dafür reicht die Zeit gerade noch. Dann im Büro nebenan Tickets gekauft (20,80 für zwei Personen) und vor zum Anleger. Dort drängt sich schon eine große deutsche Wandergruppe von Wikinger-Reisen mit viel Gepäck. Irgendwo an der Ticketagentur stand etwas von einer (relativ kleinen) maximalen Gepäckgröße (nur auf Italienisch – gibt wohl nur für Einheimische), die man mitnehmen darf, aber das interessiert niemand, auch Monsterkoffer dürfen an Bord. Ich frag mich warum die Leute im Urlaub so viel Zeug mit sich herumschleppen müssen.
Das Passagierraum ist typisch Tragflügelboot (obwohl die Boote von einem völlig anderen Typus sind als die flacheren griechischen Flying Dolphins): stickig, eng, ungemütlich. Nicht unsere bevorzugte Reiseart. Das Boot legt schnell wieder ab und verfällt in mäßige Schaukelei. Dabei ist das Meer glatt, auch wenn der Himmel bewölkt mit Regen droht. Auf das Deck kann man nicht gehen, und durch die verspritzten Fenster sieht man nur wenig von Stromboli, das wir im Uhrzeigersinn umrunden. Das Boot hält noch in Ginostra. Da wollen wir auch noch hin, morgen. Entweder mit dem frühen Aliscafo wie heute, dann hätten wir reichlich Zeit, müssten aber wieder früh aufstehen, oder im Rahmen einer Inselrundfahrt mit einem Boot. Entscheiden wir morgen.
Nun hinüber nach Panarea. Panarea ist die kleinste bewohnte Äolische Insel, nur 3,4 Quadratkilometer klein - Stromboli ist fast vier Mal so groß (und auch nicht gerade riesig). Vorgelagert befinden sich eine Reihe große und kleiner bizarrer Felsen mit so schönen Namen „Lisca Bianca“ (Weiße Gräte), „Dattilo“ (Dakytlus = Finger) und „Le Formiche“ (die Ameisen). Der größte Felsen heißt „Basiluzzo“ und war in der Antike besiedelt – eine Insel der Reichen. Das ist heute Panarea. Wobei: wohnen tun die hier nicht (die Insel hat etwa 250 Einwohner), aber sie machen im Sommer gerne hier Urlaub. Und die Hotel-Infrastruktur ist danach: alles andere als preiswert. Weshalb wir auf einen längeren Aufenthalt dort verzichten.
Wir sind gespannt.
Um Viertel nach acht legen wir auf der steilen Insel an (der höchste Berg, die Punta del Corvo ist 421 Meter hoch. Müssen wir heute nicht besteigen.). Außer uns geht noch die Wikinger-Gruppe von Bord, verstaut die Koffer in einem kleinen Café unweit des Anlegers. Im Büro daneben kaufe ich gleich die Tickets für die Rückfahrt um 15 Uhr. Sechseinhalb Stunden Zeit haben wir jetzt, das sollte reichen.
So früh am Morgen sind die Gassen des Hauptortes San Pietro nicht besonders belebt, ab und zu knattert auch hier eine Ape vorbei. Sieht jetzt eigentlich nicht so vornehm und teuer aus hier…. Eher verschlafen hoch zehn. Ein Bäcker hat aber offen, wir kaufen etwas Proviant.
Unser Ziel sind die Fundamente eines bronzezeitlichen Dorfes auf der Punta Milazzese, einem Felsenkap am südlichen Ende der Insel. Eine Dreiviertelstunde entfernt, und auf Keramikschildern auch gelegentlich beschildert. Vorher liegt noch der schöne Zimmari-Strand am Weg, ich habe extra das Badezeug eingepackt. Aber das werde ich nicht brauchen, denn es fängt leider an zu regnen. Gut beschirmt wandern wir auf der „Hauptstraße“ südwärts, zunächst an der Hauptkirche vorbei (das benachbarte archäologische Museum hat zu). Von der Terrasse davor hat man einen schönen Blick auf die vorgelagerten Felsenklippen. Die Bebauung wird jetzt lockerer, mehr blühende Gärten, viel Grün. Alles regenschwer.
Panarea hat drei Orte, die alle an der flacheren Ostküste liegen und die mehr oder weniger zusammengewachsen sind: Ditella, San Pietro und Drauto. Der südlichste Ort ist Drauto, benannt nach dem Piraten Dragut (auch Turgut Reis), der hier im 16. Jahrhundert seinen Schlupfwinkel hatte. Dorthin gelangen wir auf dem Weg nach Süden. Und hier hat es ziemlich schöne und großzügig angelegte Häuser, die sich auf Terrassen entlang dem Hang hinaufziehen. Erstaunlich wenig protzig – steht man in Süditalien nicht so auf Statussymbole? Scheint so. Die eher pragmatische Art der Italiener war mir immer sympathisch.
Schließlich erreichen wir den Zimmari-Strand, regennassbraun und feinsandig. Leer. Natürlich hat niemand Lust auf ein morgendliches Bad. Auch wenn der Regen nun wieder aufgehört hat. Nur von dem schicken Zweimaster, der draußen liegt, klingen Stimmen herüber.
Am Strand steht eine Hausruine, dient im Sommer vielleicht als Strandbar. Dort setzen wir uns hin und nehmen das zweite Frühstück ein.
Jenseits des Strandes sehen wir einen Weg leicht aufwärts zu einer Tafel, er scheint aber dort aufzuhören. Das täuscht: der gepflasterte Weg führt dort im Zick-Zack über einen niedrigen Bergrücken, und dann sieht man das Kap Milazzese schon vor sich: ein dreieckiger hoher Felsriegel mit senkrechten Wänden zum Meer, mit der Hauptinsel nur durch ein schmales Felsenband verbunden. Zum Meer hin in eine zweite, ebenso hohe Felseninsel ausfransend, das Felsenband beidseitig von Kieselstränden gesäumt. Ja, das war ein hervorragender Platz zum Siedeln: mit viel Überblick, leicht zu verteidigen, denn von unten war kaum beizukommen. Aus der Zeit um 1400 vor Christus stammt diese Siedlung (und weitere auf anderen Äolen). Die Kultur wurde nach diesem Kap „Capo-Milazzese-Kultur“ genannt, Handel wurde sogar mit den Mykenern in der Ägäis betrieben. (Die Funde befinden sich größtenteils im archäologischen Museum in Lipari). Nach nur 150 Jahren endet die Kultur abrupt, warum ist unbekannt.
Etwa fünfzig Rundhütten sind in dem Villagio Preistorico auf dem Kap gestanden, die Reste von 23 Hütten hat man ausgegraben. Sehr geräumig war das nicht. Wir turnen zwischen den Mauern herum, hmm, es mangelt uns irgendwie an Ehrfurcht vor dreieinhalbtausend Jahre alten Steinen. Aber der Platz ist auch ohne Prähistorisches einfach schön, die blühende Natur, die Wolken haben sich verzogen, die Sonne trocknet die Schirme. Ein frischer Wind hilft ihr dabei. Das türkisgrüne Meer ist auch nicht schlecht, in der Ferne sehen wir Lipari und Salina liegen, den Doppelgipfel in Wolken gehüllt.
Eine Fähre kommt herüber, Siremars „Pietro Novelli“ – endlich mal ein richtiges Schiff und nicht so ein dämliches lautes Tragflügelboot. Siremars Boote heißen übrigens überwiegend nach italienischen Künstlern der Renaissance (Tiziano, Mantegna, Masaccio, Lippi) – von ein paar antiken lokalen Größen (Calypso, Eschilo, Eraclide) mal abgesehen.
Auf dem Weg kommt jetzt eine große Gruppe daher – es sind die Wikinger-Wanderer, denen wir mitten im Fotomotiv sitzen. Ätsch, wir waren zuerst da! Sie bleiben deshalb auch jenseits des Felsenbandes, machen nur einen Erklärungs- und Fotostopp ehe sie weiterwandern, auf den Punta del Corvo vermutlich. Schnell sind sie verschwunden.
Und ich hab plötzlich doch Badelust bekommen. Südlich zu Füßen des Kaps und in drei Minuten über einen Treppenweg zu erreichen liegt der Strand Cala Junco. Mit locker fußballgroßen Kieseln ist er nicht wirklich bequem, wir sind froh, die Wanderschuhe an zu haben. Weil wir völlig alleine sind möchte ich gerne meine Badeklamotten schonen und einfach so reinhopsen. Aber das Wasser ist grausam kalt, ich schaffe es nicht, mich zu überwinden und richtig einzutauchen. Und der Wind ist auch kühl. Schnell wieder raus, abtrocknen und anziehen. Da kommen doch glatt noch zwei Badegäste, steuern den Strand an. Sind bestimmt sauer, dass schon jemand da ist. Aber keine Angst, wir gehen schon wieder!
Wir gehen auf dem gleichen Weg wieder zurück nach San Pietro. Jetzt, wo die Sonne herausgekommen ist, bescheint sie noch mehr hübsche Details: blühende Engelstrompeten, sich streckende Mini-Palmen, dekorativer Akanthus, kykladenweiße Häuser, üppige grüne Natur. An der Hauptkirche nehmen wir jetzt nicht den Weg an der Küste entlang zum Hafen, sondern bleiben im Hinterland. Da hat es jetzt schon edlere Quartiere und auch die eine oder andere Boutique. Aber alle noch geschlossen. Hier sollen sich im Sommer die Schönen und Reichen tummeln? Mhhhh. Müssen wir jetzt einfach mal so glauben.
San Pietro geht im Norden nahtlos in den Ort Ditella über, an dessen Beginn die Chiesa della Assunta steht. So in isabellfarben und von einer Palme beschattet kommt ein Hauch Afrikafeeling auf. Der Kirchenboden besteht aus bunten Fliesen, das sieht man hier öfters. Die Keramikindustrie auf Sizilien (in Caltagirone) und Lipari hat Tradition. Von der Kirche sieht man zum Hafen hinab, wo jetzt nur noch ein Wasserschiff liegt – und ist plötzlich wieder auf dem Boden der Tatsachen: die Häfen auf den Inseln hier sind selten schön oder gar malerisch. Keine bunten Fischerboote, keine weißumrandeten Anleger. Dafür Zweckbauten, Lärm, Bautätigkeit. Das liegt auch daran, dass der professionelle Fischfang auf den Inseln mit der Einrichtung des Unesco-Weltnaturerbes im Jahr 2000 nicht mehr erwünscht war, die Berufsfischer bekamen hohe Abfindungen (manche investierten sie in Ausflugsboote und Segelyachten). So gibt es jetzt fast nur noch kleine Holzboote, kein Vergleich zu den malerischen griechischen Kaikia.
Wir folgen der „Hauptstraße“ nach Norden und merken schnell, dass hier nicht mehr viel los ist. Nur verschlafenen Häuschen. Biegen nach rechts hinab zum Ufer ab und wollen an der Uferpromenade entlang, zurück zum Hafen. Zum Ufer kommen wir, aber eine Promenade gibt es nicht, Wege zu Häusern, und Felsen. Also wieder hinauf zur Straße, durch verwinkelte, schmale Gässchen. Nett hier. Ein Hauch Kykladen.
Zurück zum Hafen. Es ist inzwischen halb eins am Mittag, und immer noch (oder schon wieder?) ruhig hier. Wir brauchen eine Erfrischung. Eine Granita wäre genau das richtige, und an Anlieger ist eine Caffe-Bar, die auch Granita anbietet. Wir setzten uns dort in den Schatten, vor die Wand aus Gepäck der Wikinger-Wanderer. Man muss hier anscheinend keine Sorgen haben, dass etwas wegkommt.
Bestellen eine Granita Limone und Minze, und eine Ananas. Und sind echt gespannt. Granita, das ist eine Art Sorbet, Halbgefrorenes, und eine sizilianische Spezialität. Wenig später haben wir jeder ein Glas Eis-Wasser-Mischung vor uns: meine Zitronen-Granita enthält frische Minze und ist mega-erfrischend. Auch die Mutter ist mit ihrer sehr zufrieden. Besteht eigentlich nur aus püriertem Obst, Zucker und Wasser, nix chemischem.
Wir sitzen und schlürfen und gucken. Am Anleger ist ein großer Sandhaufen aufgeschüttet, ein Bagger verfrachtete den Sand auf dreirädige LKW, die ihn zur Baustelle – wo auch immer – bringen. Wir wundern uns inzwischen schon darüber, dass die Bagger hier nicht auch drei Räder haben….
Zwei nichtwandernde Wikinger sitzen am Nachbartisch, sonst ist nicht los. Wir sitzen und dösen.
Irgendwann wir es uns im Schatten zu kalt – Ergebnis der innerlichen Erfrischung, wir rücken in die Sonne. Noch eine Stück Pizza gegen den Hunger. Weiterdösen.
Irgendwann kommt Aktivität auf: der Laden nebenan öffnet, der Mann von „Air Panarea“ nebenan (Hubschrauberrundflüge – zum Beispiel nach Stromboli, eineinhalb Stunden für 3.600 Euro!) stellt einen Werbeaufsteller raus, Tische am Meer werden eingedeckt. Den Grund sehen wir wenig später: ein größeres Schiff legt an, Tagesausflügler von sonst woher. Milazzo vermutlich. Achtzig, hundert Leute. Schnell sind die Plätze am Hafen belegt. Andere Besucher haben Fresspakete dabei, Nudelsalat aus der Plastikbox. Setzen sich auf ein Rondell unweit des Anlegers: All Inclusive. Scusi, ohne Worte. All Inclusive kann man manchmal so ohne alles sein…. ohne Gespür, ohne Genuss, ohne Gefühl. Ohne Respekt. Und die Leute einem nur leid tun.
Zwei Stunden Aufenthalt haben sie – zu wenig um sich weiter weg zu bewegen und wirklich etwas von der Insel zu sehen. Stattdessen hocken sie jetzt hier und warten bis das Schiff wieder ablegt.
Wir bezahlen und sehen uns noch oberflächlich die nun geöffneten Läden entlang der Uferpromenade an. Haut uns nicht um. Eher der normale Touri-Schnick-Schnack. Oberhalb des südlichen Endes der Uferpromenade liegt das Hotel „Raya“ (Rochen). Das soll Kult sein. Edel. Luxus. Mhh, von hier unten sieht es sehr durchschnittlich aus. Aber der Blick ist toll, hinüber auf die Felsenkliffe, und zum wolkenverhüllten Stromboli. Irgendwie vermissen wir ihn jetzt schon.
Da trifft es sich gut, dass unser Tragflügelboot pünktlich um 15 Uhr kommt. Es ist Siremars „Calypso“ –eine der Liparischen Inseln soll die antike Insel Ogygia der Nymphe Kalypso gewesen sein, die Odysseus dort sieben Jahre lang festhielt. Wir kennen schon Gavdos und Othoni, die diesen Anspruch für sich erheben. Neben Gozo, und Mljet vor der kroatischen Küste. Und Pantelleria. Und natürlich dem dodekanischen Lipsi (wäre auch mal wieder einen Besuch wert).
Die Rückfahrt ist nicht wesentlich komfortabler als die Hinfahrt. Einige britischen Touristen freuen sich auf Stromboli. Es geht erneut über Ginostra, wo Mario einsteigt, mein Vulkan-Guide. Hat wohl heute wieder eine Gipfeltour. Wobei der Gipfel immer noch in Wolken hängt. Ihm wird es egal sein.
Nach einer Dreiviertelstunde sind wir wieder zurück auf Stromboli.
Wo wir für die uns empfangende Dreirad-Parade nur noch einen kurzen Blick übrig haben.
Später gehen wir noch zum neuen Friedhof hinauf. Vorbei an der Piazza (die Wanderer sind schon weg) und dem Ingrid-Bergman-Haus. Um den Weg zum Friedhof zu finden hilft es wenn man Italienisch kann – die Rampe, die hinaufführt, heißt „Via Camposanto“. Sonst steht da nichts.
Der neue Friedhof – es gibt auch noch einen alten, weiter oben, völlig zugewachsen und schwer zu finden – besteht aus zwei Teilen: der südliche Teil ist älter. Lauter einfache graue Steingräber, kaum Blumenschmuck. Dafür blühende Wiese zwischen den Gräbern. Der nördliche, neuere Teil ist prächtiger: er hat auch Familienmausoleen und Gräber mit bunten Kacheln – wie der Kirchenboden in Panarea. Ganz vorne ist das Grab eines Bill Lang, mit Orten wie Berlin, Valparaiso, Bousaada, Antarkis (!) und Banska Bystrica drauf. Offensichtlich ist er hier gestorben, 1989.
Am Abend gehen wir in die Pizzeria „La Lampara“ zum Essen. Eine große englische Gruppe sitzt am Nachbartisch, Schweizer sind da, und die Einheimischen holen sich hier ihre Pizza für zuhause ab.
Wir bestellen ebenfalls Pizza, dazu einen äolischen Salat, und werden reichlich satt. Ob wir es schaffen, in diesem Urlaub mal ein richtiges Menu mit Antipasti, Primo und Secondo zu essen? Spätestens nach den Nudeln bin ich normalerweise an meiner Kapazitätsgrenze angelangt. Andererseits entlastet es die Reisekasse. Und in der Pizzeria darf man das ja auch. Im Ristorante gehört es nicht, nur Nudeln und Salat zu essen. Aber ich glaube, das wird heute nicht mehr so streng gehandhabt. Oder der ausländische Einfluss hat alles versaut. Tja, in Griechenland ist es definitiv unkomplizierter mit dem Essen. Dafür ist die Auswahl deutlich begrenzter.
Mangels Taschenlampe und Straßenbeleuchtung müssen wir den Heimweg mehr tastend hinter uns bringen. Und über uns ist wieder dieser unglaubliche Sternenhimmel wie wir ihn von unbeleuchteten Inseln wie Gavdos kennen. Die kalabrische Küste und das Hinterland zeichnen sich als Lichterketten ab.
Und wirken ganz nahe.