Wir sind schon eine halbe Stunde früher beim Frühstück, denn Barbara und ich wollen heute die Rouwas-Schlucht hochwandern. Schluchten sind leider nichts für desolate Knie, also wird Theo heute Zaros zu Fuß erkundigen. Unser Angebot, ihn im Mietwagen bis zum See mitzunehmen, schlägt er aus - auf festen Straßen kann er seinem Bewegungsdrang Ausdruck verleihen, das kann nicht schaden.
Ungefähr eineinhalb Kilometer von Zaros' Ortsmitte entfernt liegt der Votomos-See von Zaros, an dem Barbara und ich unsere Wanderung beginnen wollen und den Wagen abstellen. Heute muss er mal nicht stundenlang über Schlaglöcher rattern.
Bei einem Durchmesser von gerade mal hundert Metern ist der Ausdruck "See" (limni) eine ziemliche Übertreibung, "Weiher" oder "Teich" (limnoula) würde es besser treffen.
Direkt vorne am See parkt ein großes MAN-Gelände-Wohnmobil mit Heidelberger Kennzeichen, um das zwei Hunde herumspringen. "Rhodesian Ridgeback" stellt die Cousine fachkundig über den einen fest, während der kleine mit den Fledermausohren ein Pinschermix zu sein scheint. Sonst ist aber niemand zu sehen.
Wir umrunden das Gewässer zunächst und füttern die Enten mit den Resten unseres alten Brotes, für das wir seit Tagen einen tierischen Abnehmer suchen. Geschafft.
Die Gastronomie am Ufer ist geschlossen, aber ich habe die leise Hoffnung, dass am Nachmittag bei der Rückkehr vielleicht ein Café geöffnet sein könnte. Etwas irritierend, dass eine kleine Plattform am Ufer mit Kirchenfähnchen geschmückt ist. Epiphanias ist doch schon vorbei. Theo wird uns später die Erkenntnis bringen: Im Kloster Agios Nikolaos, das wir wenig später passieren werden, leben ultraorthodoxe Mönche und Nonnen (ich hab was gegen Ultraorthodoxe aller Art), die sich ausschließlich nach dem julianischen Kalender richten. Der 13 Tage hinter dem gregorianischen nachgeht. Und nach dem ist heute, am 19. Januar, erst Wasserweihe (statt am 6. Januar). Ohne Tauchen nach dem Kreuz allerdings - die Forellen im Weiher könnten sich gestört fühlen, und ein Köpfer in den "See" wäre angesichts der geringen Wassertiefe auch ungesund.
Kurz nach zehn Uhr folgen wir dem Wegweiser auf der Rückseite des "Sees" bergwärts: 5,2 Kilometer bis ans Ziel in Agios Ioannis, etwa 500 Höhenmeter. Sollte zu schaffen sein, wenn nicht irgendwo überlaufende Bäche den Weg versperren. Mit umgestürzten Bäumen rechnen wir weniger...
Das erste Stück führt leicht aufwärts vom Limni zum Schluchteingang beim Kloster Agios Nikolaos. Das ist ein großes, glattes Gebäude im übertriebenen Hagia-Sofia-Stil, zu neu um Ausstrahlung zu haben. Wir versuchen, den Bach auf einer wackeligen Brücke zu überqueren, um dann auf der anderen Seite zu erkennen: du kommst hier nicht rein! Man will hier offenbar keine neugierigen Besucher, wofür ich ja durchaus Verständnis habe. Ungewöhnlich ist übrigens, dass sich Nonnen und Mönche das Kloster - nicht die Zellen! - teilen.
Ein vom Flachdach wild herabbellender Schäferhund demonstriert nochmals nachdrücklich, dass wir es uns bloß nicht einfallen lassen sollen, hier irgendwo eindringen zu wollen. Ja, wir haben das schon verstanden.
Unten im Bachbett sind wir falsch, wir müssen hinauf und treffen bald auf den richtigen Weg, der am Rand des Tales leicht steigend entlangführt. Problemlos zu gehen. Steine und niedrige Bäume prägen hier die Landschaft, man sieht über das Tal von Zaros hinaus nach Süden.
Nach ungefähr einer Stunde erreichen wir die Stelle, wo der Weg eine 180-Grad-Kurve macht. Wir haben die Wanderbeschreibung im Quartier gelassen, und so marschieren wir zunächst fälschlicherweise geradeaus in die Schlucht hinein, wo aber nach fünfzig Metern Schluss ist. Hier geht es nur für Kletterer weiter. Also zurück, und nun auf der anderen Seite in einer Schleife einen steilen, etwas losen Hang entlang. Von hier aus ist der großformatige Wegweiser nach Zaros auch schlüssig, der uns zunächst verkehrt herum angebracht schien.
Eine Holzbank unter einer breiten Kiefer lädt zur Rast ein, im Sommer freut man sich sicher am Schatten, aber jetzt ziehen wir die Sonne vor. Um nur wenige Meter später festzustellen, dass ein umgestürzter Baum den weiteren Weg versperrt. Der ist bestimmt gestern dem Sturm zum Opfer gefallen. Wir versuchen, den Baum unterhalb zu überwinden, aber der Hang ist lose und steil, und wir haben Schiss. Oberhalb geht ebenfalls nicht, und auch durch dem Baum kommen wir nicht weiter. So ein Mist, dann endet unser Tour schon hier, auf halbem Weg. Dabei ist es jetzt gerade mal zwölf Uhr.
Gut, Gelegenheit für eine ausgiebige Vesperpause.
Von hier oben können wir gut beobachten, wie zwei Wanderer unten den Weg heraufkommen. Zwei weitere mit zwei Hunden - groß und klein - folgen wenig später. Offenbar die Wohnmobilisten vom See. Da ist ja heute Hochbetrieb Richtung Schlucht.
Das erste Paar erreicht uns eine Viertelstunde später, es sind Franzosen. Wir weisen auf den umgefallenen Baum hin, aber sie lassen sich nicht abschrecken. Mit beherzten Griffen ins Geäst des Baumskelettes hangeln sie sich unterhalb vorbei und verschwinden Richtung Schlucht. Ok, so kann man das machen. Barbara und ich sehen uns an: das probieren wir auch! Und es klappt wirklich, die Äste sind noch nicht ausgetrocknet und morsch, sondern elastisch und stabil.
Allerdings haben wir durch die ausgedehnte frühe Pause nun ordentlich Zeit verloren. Wir wandern also zügig weiter und erreichen den Eingang der oberen Schlucht, wo auch der Wald von Rouwas beginnt.
Eine Holzbrücke überspannt das trockene Bachbett. Bisher war Wasser im Bach Fehlanzeige, aber das ändert sich nun. Ein schmaler Bach schlängelt sich durch den Wald und Felsen, ab und zu springen kleinen Kaskaden über Felsen und bilden Bassins. Das Sonnenlicht spielt unter dem Schattendach der Eichen, auf dem Boden liegen Eicheln. Für mich eine unkretische Landschaft, aber die Insel ist ja ein Kontinent. Der Wald von Rouwas ist übrigens der größte Eichenwald Kretas.
Ein letzter Schneerest hat sich im kühlen Schatten gehalten, lange wird er der Sonne nicht mehr widerstehen können.
Es macht Spaß, so durch den Forst zu gehen. Steil ist es jetzt nicht mehr, nur ab und zu muss man den Bach überqueren, und gelegentlich den Weg dann etwas suchen.
Kurz vor zwei Uhr erreichen wir die große Lichtung, in der die Kapelle des heiligen Ioannis liegt. Wir sind am Ziel.
Nach der schattigen Waldpassage ist die freie Fläche mit ganz kurzem, fast moosähnlichem grünem Gras und ein paar Bäumen darin wohltuend. Etwas erhöht steht ein Ensemble von Kapelle und einer Hütte mit Picknickplatz.
Die Sonne tut gut, denn es ist frisch hier, auf knapp tausend Metern über dem Meer. Und wir sind verschwitzt vom zügigen Gehen.
Die Franzosen haben es sich auf dem Rastplatz gemütlich gemacht, wir setzen uns auf die Mauer bei den drei Gedenksteinen. Der Größte trägt die Jahreszahlen der Aufstände der Kreter gegen Besatzungen: 1770–74, 1821, 1848, 1866, 1897 waren es die Osmanen, 1941–44 die Deutschen.
Der andere große Stein ist für Georgios Pentheroudakis, genannt Tzakalos. Er war ein Widerstandskämpfer gegen die Osmanen und Teil einer Gruppe, die hier 1890 unterwegs war. Nach dem Verrat durch einen Hirten wurde er hier getötet.
Die Kapelle ist geöffnet und wir zünden die obligatorischen Kerzen an. Bevor wir aus auf den Rückweg machen, werden wir sie wieder ausblasen. Nicht dass wir schuld sind wenn die Kapelle Feuer fängt.
Hinter der Kapelle zweigt eine Piste ab, auf der man bequem zur Passhöhe oberhalb von Gérgeri kommt. Einer Alternative für steigefaule Wanderer, die trotzdem durch die Rouwas-Schlucht wollen, denn auf die Passhöhe führt eine Asphaltstraßeab Gergeri, und als Piste weiter auf die Nida-Hochebene. Die möchte ich morgen noch mit dem Auto "bezwingen".
Nach einer halben Stunde Pause machen wir uns dann auf den Rückweg. Nicht über die Passstraße, sondern auf dem gleichen Weg entlang des Baches durch den Wald von Rouwas. Die Franzosen sind schon voraus, bei der Brücke kommen uns aber noch zwei Leute mit zwei kleinen, agilen Hunden entgegen (ein britisches Paar). Kurzes Gespräch: wie weit noch? Lohnt es? Wir geben Auskunft (es lohnt), aber sie sollen sich ranhalten, denn es ist noch ein Stück, und im Dunkeln muss man hier nicht unbedingt unterwegs sein.
Die letzten Meter auf dem steilen zweiten Wegteil gehen in die Knie und schlauchen ganz schön. Irgendwie war uns das beim Aufstieg nicht so heftig vorgekommen. Wir sind froh, dass wir nach zwei Stunden Rückweg den "See" von Zaros erblicken, und dass wir dort das Auto stehen haben und nicht noch auf der Straße zurückwandern müssen. Und bei der Passage oberhalb des Sees sehen wir in der Höhe zwei große Raubvögel entlang der Berge fliegen. Vermutlich Geier, aber sie tun uns nicht den Gefallen, tiefer herabzukommen. Nutzen lieber die Thermik um sich vollends in die Höhe zu schrauben und zu entschwinden.
Leider ist am "See" kein Café geöffnet - sehr schade!
Dafür treffen wir Achim, den Wohnmobilisten des MAN-Womos, an seinem Fahrzeug namens "Wombat". Seine Frau sei mit den Hunden in der Schlucht unterwegs, ob wir sie getroffen hätten? Nein, nur von weitem gesehen. Er selbst ist wohl nicht so der Wanderfreak und nach einer Darmgeschichte erst auf dem Weg der Genesung. Er erzählt von ihren Reiseplänen: er und seine Frau sind seit letztes Frühjahr auf Open-End-Reise Richtung Asien, aber mit viel Zeit unterwegs. Eine Geschichte von Burnout, Aussteigen und dem Traum von der großen Freiheit. Bisher scheint es zu klappen.
Wir wünschen viel Glück und verfolgen die Reise später auf der Website exploretheworld4x4.de . So eine Drohne für Filme aus der Luft - ja, nicht schlecht. Ich bin jetzt auch überhaupt nicht neidisch ...
Theo ist noch nicht zurück in den Nana-Apartments in Zaros, wir genießen bei einem Glas Wein (Geschenk des Hauses) auf der Terrasse die letzten Sonnenstrahlen, surfen auf die Seite der 4x4explorer. Nett, und interessant!
Irgendwann erscheint Theo und berichtet von der Wasserweihe am Weiher, von der Abfüllung des "weltbesten" Wassers von Zaros und der Irritation, die sein Sitzen im Kafenio an der Hauptstraße bei den Vorbeifahrenden erregt hat. Er sieht halt irgendwie nicht wie ein Kreter aus, der Gute, und touristische Wintergäste sind in Zaros auch nicht wirklich an der Tagesordnung.
Freuen wir uns jetzt aufs Abendessen! Dimitris hatte gefragt ob wir Fisch mögen. Ja, gerne! Und als wir um acht Uhr nach einer wundervollen Fava jeder eine knusprige Dorade serviert bekommen, begleitet von Kartoffeln und gekochtem Chorta, da ist die Welt in bester Ordnung. Meine zumindest.
Es gibt doch nichts befriedigenderes als eine gepflegte Wanderung durch eine interessante Landschaft bei sonnigem, aber nicht heißem Wetter.
Und das Wetterglück soll noch etwas anhalten.