Theo und ich sind uns nicht so recht einig über die Route, auf der wir nach Sitia fahren wollen. Klar ist, dass wir unterwegs einen Abstecher nach Ierapetra machen wollen. Aber ich würde gerne über die Berge und ein paar Dörfer fahren, während Theo der Meinung ist, das würde zu lange dauern und dann bliebe keine Zeit für Ierapetra. Er plädiert für breitere, besser ausgebaute Straßen. Er hat recht: die Fahrerei auf den kretischen Bergsträßchen ist zeitintensiv, aber soo weit ist das dann auch nicht. Finde ich. Und gebe schließlich nach, aber halte mir die Option offen, die Route gegebenenfalls spontan an meine Wünsche anzupassen. Schließlich fahre ich. :-)
In der Nacht hat es geregnet, und der Himmel ist immer noch bedeckt. Gutes Fahr-, aber schlechtes Fotowetter. Um halb zehn verabschieden wir uns von Barbara und fahren entlang der Küste über Istro und Pachia Ammos nach Süden. Für die archäologische Ausgrabung von Gournia bleibt nur ein Blick über den Zaun: jede Menge Mauern. Aber ob die nun dreihundert oder dreitausend Jahre alt sind? Und jetzt im Winter und montags offen hätten? Die Frage bleibt ungeklärt, wir fahren weiter über Kretas schmalste Stelle zwischen Nord und Süd, auch der beeindruckende Eingang der Cha-Schlucht wird nur fahrend passiert.
An der Tankstelle füllen wir unseren Tank: für sechzig Euro 37 Liter Benzin - die Spritpreise sind hier immer noch deutlich höher als in Deutschland.
Das Umland von Ierapetra besticht nicht gerade durch besondere Schönheit. Theo hat sich in den Kopf gesetzt, die weite Fläche der Gewächshäuser westlich von Ierapetra zu fotografieren. Das Zentrum hat er via Google Earth bei Nea Anatoli ausgemacht, und so fahren wir zunächst ohne Halt durch das überraschend verkehrsträchtige Ierapetra durch und auf der Küstenstraße Richtung Mirtos.
Das Meer zu unserer linken Seite ist vom Südwind aufgewühlt und grau, die Brandung stark und laut. Die deprimierenden endlosen, aber nichtdestotrotz nützlichen Gewächshäuserreihen stellen sich auch prompt überall ein, sind aber fotografisch ohne Drohne nur ungenügend auf Platte zu bannen.
Also wieder zurück.
In Ierapetra parken wir zwischen Ex-Moschee und Hafen und gehen vorbei an zig aufgebockten Fischer- und Ausflugsbooten zum venezianischen Kastell. Ich vermisse das Geräusch von Schleifarbeiten an den Booten, es scheint niemand hier zu sein um zu arbeiten.
Das Kastell Kalés stammt aus dem 17. Jahrhundert - der Doge Morosini ließ es 1626 auf den Fundamenten einer früheren, genuesischen Burg, die durch ein Erdbeben 1508 zerstört wurde, verstärkt wiedererbauen. 1780 soll laut der "Kreta-Bibel" von Eberhard Fohrer ein weiteres Erdbeben es erneut zum Einsturz gebracht haben, wer es nur wieder aufbaute, verschweigt das Buch. Vielleicht blieb es ja auch stehen und das zweite Erdbeben ist erfunden. Gar nicht so einfach, verlässliche Information über das Teil zu bekommen.
Dass die Festung den Türken nicht viel Widerstand bot und 1647 erobert wurde, überrascht ob ihrer mickrigen Höhe nicht. Irgendwie ist es eine Burg light, die natürlich heute verschlossen ist (Montag, Winter). Auch umgehen kann man sie nicht - die Meereswellen schlagen auf der Ostseite gegen die Mauern. Die beiden Palmen davor sind dem Palmrüsselkäfer bisher entgangen und lassen sich vom Südwind verstrubeln.
Im Café gegenüber stehen hoffnungsvoll Stühle draußen, aber jetzt nimmt hier niemand Platz. Ierapetra ist beschäftigt, Müßiggang gibt es nicht. Außer von uns, die wir einen Spaziergang um das große, fast leere Hafenbecken machen. Eine Kaimauer samt Wellenbrechern sollte uns eigentlich vor Wellen schützen, aber immer wieder schafft es eine hohe Woge, über die Mauer zu gischten und versucht, uns nass zu machen.
Der Strand nordöstlich der Burg wird von dreckgesäumten Wellen attackiert. Die Bergkette im Hintergrund - südwestliche Ausläufer der Thripti-Berge - wird von Regenwolken beschattet. Und die Bank an der Hafenausfahrt ist auch schon ganz schief.
Wir sind froh, dass wir uns gegen eine Übernachtung in Ierapetra entschieden haben: in ihrem winterlichen Habit sorgt die Stadt für Distanz.
Daran ändert auch der Platz bei der Moschee mit dem gestutzten Minarett und dem restaurierten Brunnenhaus nichts. Die musikalische Szene scheint aber recht aktiv zu sein - eine vollgeklebte Plakatwand zeugt davon. Gut, manches fand schon an Weihnachten statt, aber am Freitag waren erst die Stratakis' hier im "Βεγγέρα", und vorgestern Giorgos Fasoulas & Kostas Kallergis. Zu spät.
Schon um zwölf Uhr haben wir genug gesehen von Ierapetra. Beim Versuch, entlang der Küste durch die Stadt nach Osten zu fahren, werden wir von unerbittlichen Einbahnstraßen ins Stadtinnere mit reichlich Verkehr abgedrängt. Schade, keine Chance für einen neuen, besseren Eindruck.
Koutsounari und Ferma sind die nächsten Orte auf unserem Weg. Das wilde Meer, die dunklen Wolken, die von links drohenden Berge: so richtig gemütlich wirkt das hier nicht. Aber weil wir so früh dran sind, kann ich jetzt doch einen Abstecher machen: nach Schinokapsala in die Berge.
Schinokapsala ist der reale Ort, der hinter einem fiktiven kretischen Dorf steckt, in dem sich Szenen unseres Griechischunterrichts abspielen. Unsere Lehrerin, Griechin aus Athen, verbringt dort gerne ihren Urlaub, und da sie unsere Unterrichtsunterlagen selbst schreibt, sind Ähnlichkeiten mit echten Personen möglich. Ob wir Kyrios Antonis beim Kartenspielen im Kafenio treffen? Oder Kyria Polymnia mit ihren Hühnern? Und was ist eigentlich mit Maria?
Eine kurvige Straße führt durch Olivenland die sechs steilen Kilometer von Galini hinauf zum Dorf. In der fehlenden Sonne wirken die weißen und steingrauen Flachdachhäuser nicht sehr idyllisch. Vor einem Gebäude liegen volle Säcke. Oliven?
Eigentlich müsste ich jetzt ein wenig durch den Ort gehen und wenigstes das Kafenio suchen. Aber das Dorf wirkt leer, unbewohnt, abweisend. Nein, dort ist eine alte Frau in ihrem Garten zugange.
Trotzdem komme ich mir nun etwas albern vor. Was habe ich erwartet? Theo hat sowieso nicht verstanden was ich hier wollte. Oder nicht zugehört.
Es bleibt bei zwei Fotostopps ehe wir weiterfahren. Über Kallivitis wieder hinab zu Küste statt über Orino und Stavrochori nordwärts, wie ich ursprünglich gewollt hätte. Ja, das wären ein paar Kurven gewesen. Hätte vielleicht länger gedauert. Reisen zu Mehreren ist immer Reisen mit Zugeständnissen.
Es ist ein Uhr geworden, und so allmählich wäre es an der Zeit, etwas zu essen. Hier zwischen Koutsouras, Makrigialos und Analipsi müssten wir doch fündig werden, auch wenn es sich hauptsächlich um touristische Ortschaften handelt, die beinahe zusammengewachsen sind. Die Ouzeri in der Kurve in Koutsouras, die sieht offen aus. Natürlich versuchen wir unser Glück trotzdem weiter vorne, in Makrigialos, aber da haben wir kein Glück. Dafür staunen wir über vier Stand-up-Paddler, die im wilden Meer ihren Spaß haben. In Neopren-Anzüge gekleidet - das Meer ist bestimmt saukalt, so aufgewühlt. Bisher konnte ich dieses Freizeitvergnügen nur auf stillen Gewässern beobachten, es wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass das Stehpaddeln mit Wind und Wellen erst richtig sportlich wird. Und beim herrschende Südwind muss man auch nicht befürchten bis vor Libyens Küsten abgetrieben zu werden.....
Wir drehen um, und kehren doch in der Ouzeri namens "O Sfakianos" in Koutsouras ein. Es sitzen einige Gäste hier, Einheimische und Fremde. Nebenan ist der Polizeiposten, der Polizist betrachtet das Lokal quasi als Außenstelle. Viel ist hier im Winter sicher nicht los. Und sonst?
Wir bestellen Loukanika mit Pommes, und Maroulisalat, bekommen die obligatorische Zugabe Mandarinen, und warten dann ab, bis der plötzliche, starke Gewitterguss draußen sich ausgeregnet hat. Tatsächlich wird es während des ganzen Urlaubes das einzige Mal sein, dass es tagsüber heftig regnet.
Die Weiterfahrt über Lithínes, Papagiannades und Pano Episkopi erfreut uns durch die grüne, olivenbaumträchtige und hüglige Landschaft. Ab Maronia wird es weniger einsam, dafür die Berge an den Seiten steiler. Windräder obenauf. Kurz darauf liegt schon Sitía mit seinen weißen Häusern vor uns. Gerade mal halb vier - da wären ein paar Kurven mehr schon drin gewesen. :-(
Wir wohnen nicht in der Stadt selbst, sondern ein gutes Stück außerhalb, in Petras, in den "Bayview Apartments" (44 Euro die Nacht). Der nächtlichen Ruhe wegen, und der Größe der Wohnung.
Leider hat Theo vergessen, die Vermieterin Stella wie versprochen über unsere voraussichtliche Ankunftszeit zu informieren. Und so stehen wir nun vor der verlassenen mehrstöckigen Häuseranlage und betrachten die Treppen, die hinauf führen. Dass es einige sein würden, war uns vorher klar: bei booking gibt es entsprechende Bemerkungen. Unklarheit herrscht aber vor allem darüber, ob diese Treppen ein Geländer haben, was Theo den Auf- und Abstieg deutlich erleichtern würde. Sieht eher nicht so aus....
Wie wir so verloren in der Nässe herumstehen - es hat auch hier stark geregnet - zeigt sich die Nachbarin hilfsbereit, Stella herbeizutelefonieren. Diese kommt kurz darauf mit einem jungen Mann, der unser Gepäck bis zum obersten Stockwerk hinaufschleppt. 71 Stufen wird Theo fluchend zählen, und ein Geländer gib es nur, wenn man die Mauereinfassung der Treppen wohlwollend als solches bezeichnet. Das wird zum Problem werden, und hätte ich bei der Buchung von Theos heftiger Treppenallergie (oder ist es schon ein Phobie?) gewusst, hätte ich auf jedem Fall ein anderes Quartier gewählt. Das Hotel "Apollon" (fand Theo zu klein) oder die "Villa Ekavi" (fand ich zu abseits, und die Badfliesen albtraumhaft) wären bezahlbare Alternativen gewesen. Hinterher ist man klüger.
An der 75 m² großen Wohnung mit zwei großen Schlafzimmern an sich ist aber wenig auszusetzen. Wenn man davon absieht, dass das eine Schlafzimmer (als Kinderzimmer gedacht) keine Klimaanlage und damit jetzt keine Heizung hat. Stella wird einen elektrischen Heizofen bringen (entliehen beim Opa, der nun die nächsten Tage frieren muss) um Abhilfe zu schaffen. Die Netzüberlastung wird regelmäßig dazu führen, dass die Sicherung herausfliegt. Spätestens wenn der Heißwasserkocher parallel betrieben wird. Kein wirkliches Problem. Und das Wlan nimmt sich tagsüber gerne mal frei, Stella möchte den Netzanbieter deshalb wechseln.
Dafür haben wir vom Balkon aus einen tollen Blick über die Bucht von Sitia und den Ort selbst mit dem Flughafen dahinter. Man könnte in zwanzig Minuten nach Sitia hineingehen, muss allerdings auf der (wenig befahrenen) Straße samt Baustelle gehen. Oder auf dem Strand. Mal sehen.
Am Abend machen wir uns mit dem Mietwagen auf zum Einkaufen und dem Erkunden der gastronomischen Szene in Sitia. Es gibt einen Ariadni-Supermarkt an der Straße in den Ort hinein, und mit dem Parken ist es auch kein Problem wenn man sich nicht von markierten Radwegen (auf denen jetzt keine Radler unterwegs sind) oder Taxistellplätzen (auf denen jetzt keine Taxis stehen) abschrecken lässt.
An der südöstlichen Paralia gibt es neben einem Musikclub (Programm am Freitag und Samstag) drei offene Restaurants: das "Kritiko Spiti", "Giorgio" und das "Fengaropsaro". Mehr los ist weiter nördlich, aber das werden wir erst später sehen. Die Lokale entlang der Paralia haben fast alle riesige, in der Saison seitlich zu öffnende Speiseräume jenseits der Uferstraße während die Küche in den gemauerten Häusern ist. Nur der "Mondfisch" hat bloß ein kleines, jetzt noch geschlossenes Speisepavillon, aber das Lokal sieht sympathisch aus und so kehren wir dort ein.
Ein Tisch nahe dem angeheizten Ofen ist von zwei Griechen besetzt, wir setzen uns daneben. Der freundliche Wirt offeriert uns auf Nachfrage Fischsuppe - perfekt, dazu noch eine Taramosalata vorab. Die safrangelbe Suppe mit einer ordentlichen Portion Fisch drin lässt keine Wünsche offen. Von der Seite sorgt der Ofen für ordentliche Wärme, und aus den Lautsprecherboxen kommt kretische Musik in gemäßigter Lautstärke. Ja, so kann man es aushalten. Das Essen schlägt mit gerade mal 28 Euro zu Buche, und natürlich gibt es einen Raki und Nachtisch aufs Haus.
Danach drehen wir noch eine Runde entlang der abendlichen Paralia. Obwohl Sitia kleiner ist als Agios Nikolaos, sind hier mehr Lokale offen als dort (dabei ist heute Montag), und die sind auch besser belegt. Es gibt zwei, drei touristisch aussehende Restaurants, mehrere Rakadika, ein paar Cafés und das Zaccharoplastio von "Mitsokakis" mit einer riesigen verlockenden Auswahl an Süßigkeiten. Und eine Handvoll Buden mit Überresten einer Weihnachtsdeko stehen auf dem Platz am Ufer. Ein Weihnachtsmarkt? Leider ist am nächsten Tag alles weg, so haben wir keine Gelegenheit, uns das bei Tag anzusehen.
Jetzt braucht morgen nur das Wetter etwas besser werden. Da wollen wir an den Strand. Mit Palmen.