Der Sonntag macht seinem Namen keine Ehre: es ist grau und bewölkt, für den Nachmittag ist Regen prognostiziert. Frühstück heute drinnen.
Kurz nach zehn Uhr sind wir wieder auf der Straße nach Kritsa und weiter zur Katharo-Hochebene. Aus den Olivenhainen steigen überall Rauchsäulen empor: abgeschnittene Äste und Reisig werden verbrannt, aber mancherorts ist auch die Ernte noch in Gange. Das vergangene Jahr war zu trocken, die Olivenernte wird im manchen kretischen Regionen mager oder ganz ausfallen. Bei Kritsa reicht es aber noch, um ganze Familien beim Ernteeinsatz zu beobachten, und die Pickups mit aufgeladenem Erntegerät sind überall Teil des Straßenbildes.
Keine Geier kreisen heute über uns - sind sicher Langschläfer - und auch Ziegen und Schafe halten Abstand zur Straße. Die Straße ist weiter hinauf freigetaut. Ob das reicht?
Am Picknickplatz steht ein Bagger mit breiter Schaufel, und nur zweihundert Meter später merken wir mit Entzücken, dass er vorher fleißig war: er hat die Straße freigeschaufelt! Der zum Rand geschaufelte Schnee ist so hoch, dass wir merken, wie naiv es war zu glauben, er könne innerhalb von zwei Tagen schon weggeschmolzen sein. Ohne Schneepflug wären wir nicht viel weiter gekommen als vorgestern.
Und es ist plötzlich rege Aktivität zu beobachten: mal werden wir von hinten von einem kleinen Traktorbagger bedrängt, der vorbei will, und dann hat es plötzlich Fußgänger auf der Straße: Wanderer in voller Montur mit Rucksack und Stöcken. Hätten sie Skier dabei, ich wähnte mich fast in den Alpen....
Die Gruppe besteht aus etwa zwanzig Menschen, sie haben ihre Autos oberhalb des Picknickplatzes am Straßenrand geparkt und wandern nun hinauf auf die Katharo-Ebene. Klar, Schnee auf Kreta hat man nicht alle Tage, das ist schon einen Sonntagsausflug wert.
Gelegentlich drängelt auch ein Pickup vorbei - es wollen noch mehr hinauf auf der endlich freien Straße. Die Passhöhe liegt auf etwa 1230 Meter Höhe, und noch etwas weiter vorne hat man dann einen freien Blick auf die tief verschneite Ebene und die Gipfel der Dikti-Berge dahinter. Na, zumindest fast - ein paar Wolkenschleier sind im Weg.
Der Traktor mit der Schaufel, der vorhin an uns vorbeigerast ist, schaufelt hier nun emsig die steile Zufahrt zu einem Haus frei. Sicher hat er noch mehr zu tun, so schnell wie er hin und her fegt. Und kaum ist er fertig, schnell weiter. Ein Pickup nutzt sofort die freie Zufahrt, er hat nur darauf gewartet.
In Katharo Avdeliakos ist dann ein größerer Platz freigeschaufelt, an dem wir parken. Aus dem Kamin einer der drei Tavernen steigt Rauch empor. Hier, bei "Stereos", will man heute das Sonntagsgeschäft mitnehmen, für das man den Schneepflug bemüht hat. Die Tische sind eingedeckt, es riecht gut nach Essen. Schade, ist erst elf Uhr. Viel zu früh.
Die Wandergruppe ist inzwischen auch hier eingetroffen. Einer der Wanderfreunde spricht mich an, ein älterer Mann. Woher wir kämen, und was wir hier machen? Er sei Schotte und hätte die ganze Welt gesehen, erzählt er, und nun habe er sich in Agios Nikolaos niedergelassen. Und mit der Wandergruppe unter sachkundiger Führung wären sie immer mal wieder in der Gegend unterwegs, es sei sehr schön hier. Wir zeigen uns angemessen beeindruckt, aber vor allem von der verschneiten Landschaft, die so gar nicht dem touristischen Kretabild entspricht.
Aber bevor hier nun ein neues Zerrbild entsteht: Schnee auf Kretas hohen Gipfeln (immerhin bis 2500 Meter hoch) gibt es oft, auf den Hochebenen auch ab und zu. Aber in den Niederungen ist Schnee doch so selten, dass die Einheimischen der Küstenebenen auf die Höhen fahren um ihn sich anzusehen und Schneemänner zu bauen. Loipen und Pisten sind aber nicht gespurt....
Aus der weiten Schneefläche recken Weinstöcke ihre Ärmchen in die Höhe, in der Ferne zeichnen Bäume ein grafisches Schwarzweißmuster. Der Schnee wird noch eine Weile liegen bleiben. Vielleicht kommt sogar noch Nachschub.
Die aktuell abschmelzenden Schneemassen müssen aber schon überdurchschnittlichen Ausmaßes gewesen sein, denn das Dach der Tavernenterrasse ist unter der Schneelast eingestürzt. Bloß gut, dass da keine Skifahrer beim Après-Ski saßen.....
Hinter dem Tavernenparkplatz - neben "Stereos" gibt es auch noch "Katerina", die mit "cool drinks" wirbt, und "Zervas", aber beide haben geschlossen - endet die geräumte Straße. Ich stapfe noch etwas auf ihr entlang, aber da würden sich Winterstiefel oder Winterreifen empfehlen: der Schnee ist tief und nass, und wo er abgetaut ist, wird es rutschig. Gut, wir müssen auch nicht weiter. Aber ein Schneemann muss sein. Es wird dann eher ein Schneemännchen mit Alibifunktion, ehe wir auf ein Heißgetränk bei "Stereos" einkehren, wo ein Feuer im Ofen die Gaststube wärmt.
Offenbar erwartet man heute zahlreiche Schnee(be)sucher, die der freien Spur des Pfluges folgen. Ein älteres, von Wetter und Leben gezeichnetes Bauernpaar ist schon da, sie wärmen sich direkt am Ofen während ihr freundliche Hündin draußen bleiben muss.
Den Bergtee bekomme ich auf Rückfrage und Wunsch mit Honig. Hoffentlich finden wir später anderswo, wenn wir Hunger haben werden, auch eine offene Taverne.
Es ist Mittag, als wir wieder talwärts fahren. Noch rechtzeitig ehe es sich unten herumgesprochen hat, dass die Straße offen ist und der Gegenverkehr zunimmt. Viele Ausweichstellen hat es nämlich nicht, und nochmals im Schnee will ich auch nicht festsitzen.
Am Schneepflug, der eigentlich ein Bagger ist, legen wir noch einen Fotohalt ein und bewundern die Schneeketten am Hinterrad. Mit dem Schneeräumgerät muss man hier improvisieren, aber wer könnte das besser als die Griechen?
Unser nächstes Ziel ist Kritsa. Beziehungsweise die Kritsa-Schlucht, in die ich ein paar Meter hineingehen möchte, wenn das möglich ist. Theo verzichtet - nichts für seine Knie (definitiv), er bleibt beim Auto und beobachtet solange ein Großfamilie beim Olivenernteeinsatz.
Ein Wegweiser verweist auf den Schluchteingang. Allerdings steht darauf nicht "Gorge Kritsá", sondern "Gorge Chavgá". Na, wird schon richtig sein. So viele Schluchteingänge kann es hier ja eigentlich nicht geben.
An einem Hof vorbei zeigt ein weiterer Wegweiser nach links neben einem Zaun ins Tal hinab. Dass das Tal kein Wasser führt, konnte ich schon vorher sehen. Das kommt wohl nur nach sehr starken Regenfällen vor.
Der schmale Durchgang ist allerdings mit dornigem Reisig verbaut: da soll man definitiv nicht rein. Mhh, schon abschrecken lassen bevor ich überhaupt angefangen habe? Nein, finde ich, und schaffe es irgendwie, das Gestrüpp zu überwinden ohne mir die Jacke zu zerfetzen. Man sollte doch nicht ohne Heckenschere unterwegs sein....
Irgendwie hab ich jetzt das Gefühl, auf verbotenem Terrain zu sein. Das Bachbett mit kleinen und ganz großen, hellen Steinbrocken wirkt unter dem sich weiter eingrauenden Himmel auch nicht besonders freundlich. Na, ich werde nicht weit gehen, nur fünf, zehn Minuten. Irgendwie ähneln solche Schluchten sich ja auch - kennt man eine, kennt man all (von den großen Schluchten wie Samaria oder Aradena mal ausdrücklich abgesehen).
Es ist ein unwegsames Gehen, schnell muss man über Felsenbrocken klettern. An einem hohen Brocken helfen Metallbügel beim Steigen. Da noch rauf, aber dann scheint es heftiger zu werden, ohne dass sich die Ausblicke gravierend verändern: steile, brauen Wände, unten helle Felsen und Steine, etwas Grün dazwischen. Gut, das genügt, ich kehre um. Natürlich muss ich wieder an dem Dornenreisig vorbei, was von unten noch blöder ist. Aber wenigstens mal die Wanderschuhe angehabt. So ein wanderunfähiger Mitreisender und ein Mietwagen machen ganz schön bequem. Ob ich noch zu einer richtigen Wanderung komme?
Und jetzt? Noch etwas weiter in die Berge? Nach Krousta in der Hoffnung auf eine offene Taverne? Am Sonntag sollte das doch möglich sein. Es sind nur fünf Kilometer auf einer gut ausgebauten Straße, die schöne Aussichten auf Kritsá und die schneebedeckten Berge dahinter ermöglicht.
Erst mal durch Krousta durch. Da rechts, die Taverne am Ortseingang, da ist Licht. Weiter vorne sieht nur noch ein Kafenio offen aus, überall parken Pickups mit Ästen und Reisig auf der Ladefläche. Und dann sind wir auch schon wieder draußen. Wir drehen um und finden die Taverne "O Kroustas" tatsächlich offen. Die ist größer als gedacht, viele Tische sind belegt, und es werden noch mehr werden. An der Wand hängen Gewehre und Hirtentaschen. Nicht nur in den Lefka Ori macht man einen auf wehrhaft.
Auf der Speisekarte stehen "lasagne", die mir vom Wirt als hausgemachte Nudeln mit Käse übersetzt werden. Ob das was wie die karpathiotischen Makkarounes ist? Ich bestelle eine Portion, Theo nimmt Païdakia, und vorab Chortopittes. Die Pasta entsprechen wirklich den Makkarounes und schmecken sehr gut mit dem pikanten Käse, Theo ist auch zufrieden mit seinen Lammknochen.
Zu Mittag isst man hier sonntags erst um drei, halb vier. Eine Gruppe Gäste nach der anderen sucht im Lokal Platz. Vor allem Familien fahren gerne von der Küste herauf weil man hier besser und preiswerter isst als unten, wird unsere Vermieterin Barbara erzählen. Schön für uns. Als wir zum Auto zurückkehren, ist die Straße auf beiden Seiten zugeparkt. Sind wir ja rechtzeitig dagewesen.
Über Prina und Kalo Chorio fahren wir in einer Schleife zur Küste nach Istro. Eine schöne Strecke, auch wenn die Straßenoberfläche an einigen Stellen nicht im besten Zustand ist. Istro ist ein langgestreckter Ort, vom Tourismus und der Durchfahrtsstraße geprägt und ohne erkennbare Ortsmitte. Wir trinken einen Ellikino in einem Mezedopolio und wundern uns, dass hier die Tische alle eingedeckt sind. Bis kurz darauf ein Bus vor dem Lokal hält, dem gut zwanzig weibliche Teenager in Trainingsanzügen samt Trainerstab und Eltern entsteigen. Es ist eine Volleyballmann-, nein, -frauschaft, die nach einem Spiel noch etwas essen wollen. Da machen wir schnell, dass wir weiterkommen.
Zweimal Strand schauen wir uns nun noch an. Zunächst bei Istro eine weitläufige Sand-Kies-Bucht, menschenleer und durchaus einladend. Wenn die niedrige Wassertemperatur nicht wäre.
Danach fahren wir entlang der Küste über Vathy und Ammoudara nach Almyros, wo ein Fluss ins Meer mündet und einen großen, schilfgerahmten Teich bildet, in dem sich zahlreiche Enten und Gänse tummeln. Dieses Süßwasseridyll sorgt im Sommer bestimmt für viel Mückennachwuchs in den umgebenden Quartieren. Sogar jetzt im Januar stürzen sich ausgehungerte Schnaken nachts auf mich - sie haben im Kleiderschrank überwintert.
Am angrenzenden Strand von Almyros ist dafür richtig was los. Keine Badeleben, aber Strandspaziergänger und Drohnenpiloten, die ihre Flieger rasant entlang der Küste steuern. Der kleine Fluss, der am südlichen Strandende ins Meer mündet, hat ordentlich Strömung, ein Holzsteg überspannt ihn. Jenseits der Mirabello-Bucht beeindruckt wieder die Bergkette, Wolkenfetzen sorgen für dramatische Stimmung. Und im Norden ragen die Häuser von Agios Nikoloas in die Höhe, davor ein Wald von Segelschiffmasten in der Marina. Ob wir heute Abend mal zu Fuß hin sollen, Theo?
Nein, auch am letzten Abend nehmen wir das Auto. Von den drei ausprobierten Tavernen hat es uns in der "Ble Katsarolakia" am besten gefallen, und da gehen wir heute wieder hin. Risotto und das Filet in Senfsauce schmecken gut, die Rechnung beläuft sich auf 26 Euro. Wir sind zufrieden.
Morgen werden wir nach Sitia umziehen. Wir sind gespannt. Auf die Stadt, die Tavernen, unser Quartier, den äußersten Osten, überhaupt alles.