Nachdem wir durch ergiebiges Duschen das Badezimmer überschwemmt haben - der Siphon ist verstopft und so kommt bei starker Belastung das Wasser wieder aus dem Abfluß im Badezimmerboden hoch - und auch das elektrische Sicherungsproblem bei der Frühstückszubereitung gemeistert haben, brechen wir gegen zehn Uhr nach Osten auf.
Unser erstes Ziel ist Kloster Toplou, aber schon nach fünf Kilometern blieben wir an der Abzweigung zum "Dionysos Village" hängen. Das Geisterdorf, eine touristische Fehlplanung erster Klasse, interessiert mich. Es liegt auf der Ostseite der Bucht von Sitia und sieht von weitem tatsächlich wie ein nettes kleines Dorf aus. Das will ich mir näher ansehen.
Wir parken vor dem futuristisch-imposanten Tor. Niemand wacht hier, außer womöglich einer Videokamera, ungehindert können wir das "Dionysos Village" betreten. Es besteht aus zahlreichen ein bis zweistöckigen Häusern mit Ferienwohnungen, die sich um Pools und andere zentrale Anlagen gruppieren. Das Ganze ist hübsch und hochwertig angelegt, weit entfernt von einem riesigen Hotelkasten, den man hier auch hätte bauen können. Einzelne Gebäude sehen gepflegt aus, aber anderswo, vor allem beim zentralen Pool, liegen zersprungene Fliesen, blättern Farbe und Putz.
Nur ein Wintereindruck, oder auch im Sommer so?
Ein paar Männer arbeiten an einem Haus, ich frage sie ob das hier im Sommer bewohnt wäre. Sie bejahen.
Es ist ein paar Jahre her, da machte das "Dionysos Village" in den Kretaforen Schlagzeilen. Es gab sogar Aufenthalte dort geschenkt in dem Versuch, das halbfertige Projekt zu subventionieren und beleben. Mit Beginn der Krise war dann Funkstille.
Dummerweise haben die Planer ein paar lokale Gegebenheiten vernachlässigt: zum einen ist die Küste dort felsig und wenig attraktiv, zumal sich dort vorzugsweise der Müll der ganzen Bucht ansammelt. Zum anderen zieht der Rauch der nahegelegenen Müllkippe bei Südwind, so wie heute, genau in die Hotelanlage. Das Ganze verleiht dem Village eine Endzeitstimmung, gegen die auch die fröhlichen rosa und himmelblauen Anstriche, die Blumen und Beete nur schwer anstinken können. An einem der besser aussehenden Häuser hängt ein Schild "πωλείται - zu verkaufen". Offenbar haben manche der Häuschen private Besitzer, die nun keine Lust mehr auf Urlaub zwischen leeren Pools und fehlender touristischer Infrastruktur haben. Dürfte schwer zu verkaufen sein.
Eigentlich ist es ein Jammer, denn daraus hätte man mehr machen können. Das Village ist auch kein optischer Schandfleck, wie manche behaupten. Das "Dorf" wäre ja ganz nett, die Leere offenbart sich ja erst von Nahem, und die felsige Küste ist hier kaum zu verschandeln. Und schöner wird es auch nicht, wenn es nun peu à peu verwildert oder verrottet. Was aber offenbar nicht der Fall ist. Noch nicht.
Über eine kurvige Strecke durch ödes Land geht es nun schnell hinauf zum Kloster Toplou. Auch dieser Ort ist mit touristischen Geschäften verknüpft. Dem Kloster Toplou gehört nämlich das Land am Cavo Sidero, auf dem die britische Minoan Group seit Jahren ein riesiges Tourismus-Projekt errichten möchte. Geplant war ursprünglich eine Luxus-Anlage mit 5-Sterne-Hotels, 7.000 Betten, drei Golfplätzen, Jachthafen, Spa, etc. - eine Investitionssumme von über 1,2 Milliarden Euro. Der vehemente Widerstand weltweit, von Naturschützern ebenso wie von Anwohnern, und die Krise haben das Projekt zunächst verzögert (hier eine Artikel in der ZEIT aus dem Jahr 2010) und inzwischen ziemlich geschrumpft. 2015 gab es anscheinend grünes Licht für einen deutlich kleineren Plan namens "Itanos Gaia", der nur noch einen Golfplatz und 2.000 Betten vorsieht. Eine Umweltverträglichkeitsstudie steht aber noch aus. Die Frage ist auch, woher in dieser regenarmen Trockenlandschaft das für einen Golfplatz und ein solche Projekt notwendige Wasser kommen soll. Meerwasserentsalzung in solcher Größenordnung? Na, nichts ist unmöglich, aber viele sinnlos.
Ich weiß nicht, was den Abt des Kloster Toplou geritten hat, das Land für eine solche Gigantomanie zu verpachten oder zu verkaufen. Die versprochenen 1.200 Arbeitsplätze dürften eher im Billiglohnbereich liegen, der Schaden für den Individualtourismus der Gegend wäre aber sicher so heftig wie der für die Umwelt. Und hat man nicht mit den "Dionysos Village" schon ein abschreckendes Beispiel? Das wäre aber nur im Bonsai-Format dagegen...
Kloster Toplou ist eine weitläufige Anlage mit Weinkellerei, Verköstigungsraum und natürlich Kirche. Wir parken am Friedhof und gehen zum Kloster hinüber. Das ist offen, aber keine Menschenseele ist dort. Gibt es hier überhaupt noch Mönche, die den Namen Kloster rechtfertigen? Was ist mit dem geschäftstüchtigen Abt?
Die obligatorischen Anweisungen wie man sich zu verhalten hat, und dass das Fotografieren in der Kirche und im Museum nicht erlaubt sei. Wir kommen nicht in Versuchung, denn beide sind geschlossen, genauso wie der Shop. Tss, da hatte ich gedacht, der Abt würde hier auch im Winter neben Postkarten und Büchern das bekannte Olivenöl von Kloster Toplou verkaufen wollen. Angesichts der beim deutschen Discounter zum Niedrigpreis angebotenen Mengen kann man da schon ins Grübeln kommen.
Schade ist diese die Verschlossenheit schon, denn es gäbe hochwertige Ikonen und Wandmalereien aus dem 15. Jahrhundert zu besichtigen.
Es ist also niemand da, und so schleichen wir durch die Höfe und Tore, betrachten die graue Steinplatte mit einem Vertragstext, die aus dem 2. Jahrhundert stammen soll, und ein Marmorrelief mit der Muttergottes. Und die emporstrebenden Kakteen in den Ecken des Innenhofes.
Der Wolkenhimmel drückt von oben und verstärkt die verlassene Stimmung.
Aber es muss hier schon noch jemand leben, darauf deutlich die Habseligkeiten in den Nebenhöfen hin: das Brennholz und das Werkzeug.
Wieder an der Straße kommt ein dickes Geländefahrzeug angefahren, dem ein Mönch entsteigt, der seine Energie aber darauf verwendet, Schafe von irgendwo zu verscheuchen. Der Fahrer parkt den SUV am Kloster und verschwindet ebenfalls ohne uns eines Blickes zu würdigen. Winterbesucher bringen kein Geld. Wie auch, wenn nichts geöffnet ist. Sollen wir nach der Besichtigung des Minifriedhofes noch der Winery einen Besuch abstatten? Vergebliche Liebesmühe sicher. Aber Weinberge hat es hier, die Weinstöcke ragen schwarz aus dem grünkleeigen Untergrund hervor.
Weiter, wir haben noch einiges an Programm vor uns.
Der nahe Palmenstrand von Vái ist unser nächstes Ziel. Über eine weite Ebene mit einer großen Schafherde - sehr dekorativ stehen die Tiere in blaugrauer Frygana - fahren wir hinab zur Ostküste der Toplou-Halbinsel und parken auf dem Parkplatz, dessen Dimensionen erahnen lassen, was hier im Sommer los ist. Unser Fiat steht aber ganz alleine da.
Der Palmenstrand von Vai also, dieses Must-See des Inselostens. Die Straße führte schon entlang des Palmenhains, dessen Größe mich überrascht. Ich hatte lediglich ein paar Handvoll Bäume erwartet, aber das ist schon ein veritabler Wald, der hier sich entlang eines Flusslaufes das Tal hinaufzieht. Davor liegt ein herrlicher Sandstrand mit dekorativen vorgelagerten Felsen. Echt schön, auch wenn die Sonne sich immer noch bitten lässt.
Wir gehen unter den kretischen Dattelpalmen spazieren. Das Hinterland ist mit einem Zaun abgesperrt, aber das Tor ist unverschlossen, und so trauen wir uns auf den Weg zwischen Tümpeln und Wasserläufen. Hier haben vor Jahrzehnten die Hippies kampiert, mit wachsendem Tourismus und Aussteigern verkam der Strand zur Müllkippe mit Riesenratten bis er schließlich unter Naturschutz gestellt wurde und sich der Palmenhain erholt. Trotzdem ist hier alles dem Tourismus unterworfen, vom Parken über die Sonnenliegen bis zur Taverne. Im Sommer.
Jetzt, im Januar, ist niemand da, der etwas von uns wollen könnte. Wäre es nicht so bewölkt und kühl, ich würde glatt Baden gehen. So geht nicht mal Sonnenbaden.
Aber auf die anbrandenden Wellen schauen und die Naturgeräusche hören hat auch was Meditatives.
Und vom Aussichtspunkt auf dem Felsen auf die Bucht gucken. Man sieht hinaus auf das kahle Nordostkap von Kreta (die äußere Spitze heißt Kap Sidero, der vorherige Abschnitt Kiriamadi), das von mehreren tiefen Buchten unterteilt wird. Das ist unser nächstes Ziel.
Mit der herauskommenden Sonne leuchtet der Klee, der hier alle Wiesen, Weinberge und Haine bedeckt. Hellgelbe Blüten auf giftgrünen Blättern - das knallt.
Schon eine Bucht weiter der nächste Fotohalt - bei den Ausgrabungen des antiken Itanos. Fast ein Idyll: ein paar Palmen, ein Windrad, blaue Anemonen, diverse Mauern und Steinhäufen ungeklärten Alters. Und hier irgendwo soll die Monster-Ferienanlage hin? Aua. Tourismus kann fürchterlich sein. Was ein Segen, dass Griechenland so viele kleine Inseln hat, die sich durch umständliche Fähranreisen dieser Flut entziehen können. Auch wenn es die Einwohner bedauern mögen. Wo Massen sind, ist das Paradies am Ende.
Weiter nach Norden wird es steiniger, öder, und wir erreichen die Stelle, an der es nur eine schmale flache Landbrücke zwischen zwei tiefen Buchten gibt. Wir scheuchen ein paar Schafe von der Straße, eines mit einem winzigen Lamm. Womöglich sind wir sein erstes Auto. In der östlichen Bucht steht ein halbes Dutzend Wohnwagen. Dauercamper? Wir sehen niemand dort.
Dann kommen Schilder, die die weitere Durchfahrt und das Fotografieren verbieten: "Vorbitten Gebiet" - militärisches Sperrgebiet. Natürlich ignorieren wir sie, und stehen dafür nach der nächsten Kurve vor einer Schranke samt Wachhäuschen mit Soldat und Hund. Upps. Bis vom Sidero-Kap kommt man nicht. Schade, ich wäre gerne bis zum Leuchtturm, aber da kann man nix machen - Vorbitten.
Also kehren wir um. Wird sowieso allmählich Zeit für Mittagsessen, und mit einer geöffneten Taverne ist hier nicht zu rechnen. Oder sollen wir den Soldaten nach der Kantine fragen? Sein Hund sieht unfreundlich aus....
In Palékastro, einem eher zurückhaltenden großen Straßendorf, finden wir die Taverne "Vai" an der Durchgangsstraße Richtung Sitia geöffnet. Die Wirtin meint es gut mit uns und serviert uns außer den bestellten Dolmadakia, Biftekia und dem Tsatsiki noch einen Teller Pilawi sowie ein halbes Dutzend Mandarinen, geschält. Jede enthält mindestens zwanzig Kerne, und wir stellen Berechnungen an wie viele das pro Schnitz macht. Der elektrische Heizlüfter, den sie fürsorglich neben unseren Tisch gerückt hat, setzt mit seiner Hitze beinahe meine Jeans in Brand.
Ich brauche dringend Bewegung.
Also, und jetzt?
Ich hätte da noch ein Gipfelziel in Reichweite - schließlich muss eine SMS nach Köln geschickt werden, und das Mitnehmen der Wanderstiefel hat sich auch noch nicht bezahlt gemacht.
Weil das mit den richtigen Gipfeln jetzt im Winter schwierig ist, hab ich mir nur einen kleinen Gipfel ausgesucht, ein Gipfeli sozusagen. Petsofas heißt es, liegt nahe an der Küste, ist 255 Meter hoch und von Palekastros Teilort Agathiá in weniger als einer Stunde zu erreichen. Das ist gut, denn inzwischen ist es halb drei vorbei, und der Himmel sieht nach Regen aus.
Wir parken am Ortsende von Agathia und spazieren durch Olivenhaine mit dichtem grellgrünem Kleeboden. Faszinierende Verteiler der Wasserleitungen. In den Hainen sind Männer an der Arbeit, Holz zersägen, Schnittgut verbrennen. Theo wird sich hier unten auf den verzweigten Wegen die Füße vertreten und vielleicht die minoische Stadt Roussolakkos besichtigen, während ich nach Höherem strebe.
Hinter Gelände mit zig angebundenen Hunden - natürlich alle wild bellend - und nach der Durchquerung eines leeren Pferches beginnt der Anstieg auf einem schmalem Weg durch Frygana und Steine.
Schnell wird der Blick auf die Küste bei Chiona und den kleinen, ins Meer hineinragenden Tafelberg Kastri frei. Im Norden verläuft das Kap Sidero in flacher Gräue.
Tatsächlich drückt der Himmel drei Tropfen heraus, aber noch bevor ich überlegen kann ob ich umkehren soll weil ich den Schirm nicht dabei habe, hat es sich auch schon ausgeweint, und ich gehe weiter aufwärts. Schließlich führt der Weg im spitzen Winkel nach rechts. Das kleine Kreuz, das ich zunächst für das Ziel gehalten habe, ist aber noch nicht der Gipfel. Dieser ist mit einer Betonsäule markiert, kurz vor vier Uhr bin ich oben.
Auf dem Petsofas haben britische Archäologen Fundstücke eines minoischen Gipfelheiligtums ausgegraben. Die niedrigen Mauern stammen aber sicher aus jüngerer Zeit, Artefakte gibt es allenfalls im Museum, beispielweise in Sitia.
Dass man sich hier den Göttern näher fühlte, lässt sich für mich durchaus nachvollziehen, denn die Aussicht ist beeindruckend. Wenn es klarer wäre, könnte man Kassos und Karpathos in der Ferne sehen. So leuchten flache kahle Felseninselchen in der Sonne, Elasa und Prasonisi. Hinter dem Strand von Chiona leuchtet eine Wasserfläche. Brackwasser. Wie das hier wohl im Herbst aussieht? Bestimmt alles total vertrocknet. Und ob das Wandern dann auch noch so Spaß macht wie jetzt? Ich sollte es ausprobieren ...
Zwei Stunden habe ich mir und Theo gegeben, im Winter sind die Tage kurz. Also schnell wieder hinab. Theo hat sich die minoischen Reste erspart und ist nur hin und her promeniert. Und er hat im Minimarkt Brot gekauft. Sehr gut, auch wenn dieses krümelige Weißbrot sich am nächsten Tag nur nach vorherigem Toasten verzehren lässt.
Mit dem Sonnenuntergang treffen wir wieder in Petras ein. Das Abendrot verkündet uns für morgen schönes Wetter.
Weil es uns gestern im "Fengaropsaro" so gut gefallen und geschmeckt hat, gehen wir heute nochmal hin. So richtig hungrig sind wir nicht, und nach der Suppenerfahrung von gestern fahren wir heute nochmals auf Suppe ab, allerdings in der Veggie-Variante: einmal Pilz, einmal Chorta. Und wenn wir schon bei Chorta sind, ordern wir noch Chortopittes vorab. Die sind absolut köstlich (ich tippe auf Kichererbsenteig), während die Suppen eher dünn sind. Gut, wir haben das so gewollt.
Der nette Wirt gönnt uns natürlich noch Nachtisch und Raki aufs Haus, wahrscheinlich hat er gedacht, dass man von so ein bißchen Suppe und Pittes nicht satt werden kann. Doch, das geht schon.
Morgen wollen wir dann den Toten einen Besuch abstatten. In ihrem Tal.