Ich bin zeitig auf am Dienstag. Mit frischem Brot vom Bäcker - schön, morgens durch die noch leeren Gassen der Chora zu gehen - frühstücke ich an dem Tisch auf der Terrasse vor dem Haus und kann so die Sonne genießen. Um Viertel nach neun bin ich wieder auf der Straße, Richtung Egiali, wo ich in der dortigen Filiale von Thomas meinen Mietwagen zurückgebe. Danke, war bestens!
Zum letzten Male treffe ich zufällig Valentino mit der Wandergruppe. Meinen Plan, heute von hier gegen den Strom nach Chora zu wandern, finden sie beeindruckend. Mhh, hab ich so noch nicht gesehen. In der Gegenrichtung habe ich diese Mutter aller Wanderungen auf Amorgos bereits zweimal absolviert, nun brauche ich eine neue Herausforderung. Herausforderung deshalb, weil man von Meereshöhe gleich hinauf auf 400 Meter muss, und weil man das schönste Wegestück, das zwischen Potamos und Agios Mamas, so gleich am Anfang hat. Andererseits liegt es nun noch im kühlen Schatten, und ich muss mich am Ziel nicht um eine Rückfahrgelegenheit kümmern. Und zusätzlich bieten andere Wanderrichtungen neue Perspektiven.
Um zehn nach zehn beginne ich den Weg an der steilen Rampe, die schnurgerade nach Potamos hinauf führt, der Wegweiser dort gibt vier Stunden und fünf Minuten bis Chora an.
Schnell ist Potamos erreicht, das in üppigen Wiesen liegt und einen prächtigen Blick auf die Bucht von Egiali bietet. Der erste Anstieg ist geschafft, mir ist auch warm geworden. Nun geht es sanfter weiter, ein herrlicher Höhenweg entlang blühender Terrassen, mit rotem Punkt markiert und sowieso nicht zu verfehlen. Es macht Freude, so dahin zu gehen.
Vorne kommt nun die vorgelagerte Insel Nikouria ins Blickfeld, sie wird mich ein langes Stück immer mal wieder begleiten.
Nach 65 Minuten erreiche ich die Kapelle Agios Mamas. Gelegenheit für ein kurze Pause, aber ich bin gut im Rhythmus und es zieht mich weiter. Der Weg läuft nun auf der Höhe und vorbei an
buckeligen grünen Büschen ein felsiges Tal aus, in der Ferne kann ich den Profitis Ilias mit dem Gipfel im Wolkendunst sehen, den ich noch umwandern werde. Ist ganz schön weit weg....
Windmühlenreste bilden Landmarken.
Oxo Meriá heißt die Gegend, die ich nun erreiche, und auf einem einfachen Hof treibt ein Mann zwei Rinder und ein Kalb zur Tränke. Der erste Mensch, der mir seit Potamos begegnet. Ich grüße freundlich, er winkt zurück und ruft "Chora", was ich bestätige. Kaum habe ich den Hof - oder ist es nur ein Stall? - hinter mir gelassen, werde ich mit den unangenehmen Begleiterscheinungen der tierischen Landwirtschaft konfrontiert: eine wilde Meute kleiner, schillerender Fliegen stürzt sich auf mich, klebt dutzendweise auf Armen, Schulter und im Gesicht - Mund und Augen. Wedelnde Abwehrversuche zeigen kein Resultat, ich fliehe mit geschlossenem Mund, nicht erpicht auf eine fliegenden Zwischenmahlzeit. Die Insekten werden weniger, begleiten mich aber noch ein Stück.
Zum ersten Mal habe ich jetzt auch Gegenverkehr, zwei Wanderinnen sind schon früh los und haben nun, gegen Mittag, den Großteil des Weges schon hinter sich.
Nun bin ich schon fast in Asfodilitis. Der Weg führt in steinigen Stufen hinab auf die Inselostseite und zum endlosen Grau der Trockenmauern, Pferche und Ruinenwände des Weilers, in dem ein oder zwei Höfe wieder bewohnt sind. Seit eine befestigte Straße hierher führt, ist die Verlassenheit Geschichte und der Bauer hat es leichter. Und es gibt immer noch das heute allerdings geschlossene Café.
Ein Esel guckt aufmerksam über die Mauer. Blumenwiesen und Kakteen zwischen den Mauern.
Hier sind doch irgendwo die Felsenritzungen. Genau, direkt an einer Kreuzung hat es welche. Sie sind nicht antik oder von großem künstlerischem Wert, aber erfreuen Vorbeiwandernde. Wenn sie sie sehen. Geschaffen wurden sie zwischen 1897 und 1943, mit einer großen Lücke zwischen 1920 und 1940, von Michalis Roussos. Er war gelähmt und bat die Menschen, ihn irgendwohin zu setzen, wo er in die Steinplatten und Mauern Kreuze, Initialen, Musiker und Tanzende eingravierte. Am liebsten hielt er sich an den Brunnen auf, weil dort die meisten Menschen hinkamen. Über 200 Gravierungen sollen es sein, viele sind mit Jahreszahlen versehen und im Gelände verstreut, von Wildnis überwuchert.
Eine Gruppe Franzosen sucht den Weg, ich weise sie auf die Ritzungen hin, die sie völlig übersehen hatten. Als ich die letzten Mal hier vorbeigewandert bin, ging es mir ähnlich.
Die pittoreske Kapelle von Asfodilitis habe ich mir als Rastplatz ausgesucht, man sitzt hier so schön windgeschützt. Und ich habe Glück, denn gerade kommt der Bauer mit seinem Pickup angefahren, um das Öl in den Lämpchen nachzufüllen. So kann ich zum ersten Mal einen Blick hineinwerfen. Es ist eine Doppelkapelle, die Kombination von Agios Georgios und Agios Nikolaos finde ich ungewöhnlich. Land und Meer - auf Amorgos passt es aber. Nur der Heiligen der Seeleute so weit weg vom Meer?
Inzwischen ist es halb ein Uhr geworden, und ich habe das härteste Stück des Weges vor mir. Das Tor am Westeingang des Weilers steht offen, ein paar Rinder und Schafe kommen mir entgegen. Soll ich das Tor jetzt schließen? Einige Leute sind in der Nähe zwischen den Ställen - oder sind es einfache Behausungen? - zugange. Sie werden sicher auf die Tier aufpassen.
Nun geht es zunächst leicht aufwärts, dann auf der Höhe durch steiniges Gelände. Schafe vor den Mauern. Der Weg ist gut geräumt und angenehm zu gehen, der Wind zunehmend frisch. Der Gegenverkehr nimmt zu. Einzelne Wanderer und Grüppchen. Ich fühle mich wie eine Geisterläuferin. Rechts taucht für eine Weile wieder Nikouria auf, in einem Taleinschnitt. Das Wegestück zieht sich, etwa eine Stunde ab Asfodilitis wechselt der Weg die Inselseite und verläuft nun oberhalb der Hauptstraße, die er im folgenden Sattel fast berührt. Ich hatte etwas von illegalen Straßen auf Amorgos gelesen, die wieder renaturiert werden sollen oder auch nicht. Eine verläuft hier, zur Chrisostomos-Kapelle. Na, Straße wäre übertrieben, eine Piste ist es. Und angesichts der Pläne des griechischen Staates, auf Amorgos über 70 Windrotoren zu errichten, wäre diese Zerstörung ja Pillepalle. Ich hoffe immer noch, dass man sich wenigstens bei dieser bergigen Insel noch eines besseren besinnt. Wobei mich weniger die Optik der Räder stören würde, als die Zerstörung der Landschaft durch die zum Bau und zur Wartung notwendigen Straßen, die hier an den steilen Hänge irreparable Schäden hinterlassen würden. Am Berg Ochi auf Evia konnte ich das nur zu gut beobachten.
Mit solch düsteren Gedanken gehe ich weiter. Ich habe mich gegen den östlichen Weg vorbei am Kloster Chozowiotissa und für den nordwestlich am Profitis Ilias entschieden. Den steilen Aufstieg vom Kloster rauf in die Chora wollte ich mir sparen, und habe dabei übersehen, dass es auch hier stramm bergauf geht. Der Wegweiser nennt ihn "Schulweg" und gibt die Dauer mit eineinhalb Stunden an. So lange Schulwege, und da es hier keinen Ort gibt, waren die Kinder hier ja nicht am Start- oder Zielpunkt. Harte Zeiten damals, und die Schüler bestimmt noch nicht so verfettet wie die heutigen.
Der Weg verläuft zunächst auf einer Piste und klettert dann als schmales Monopati oberhalb der Straße. Zum ersten Mal habe ich Wanderer vor mir gesehen, sie entschwinden aber aus schnell meinem Blick. Ein dichter Wald niedriger Bäume begleitet mich, unten dürr zerknabbert, oben ein hellgrüner Decke frischen Grünes. Aber schon ein paar Meter weiter dominieren wieder Steine und Frygana, nur gelegentlich blühen Zistrosen und später Affodil. Im Dunst des Nordens schwimmen Keros und Naxos.
Ich suche, ob ich von hier aus den richtigen Aufstieg zum Profitis Ilias ausmachen kann, den ich vor sechs Jahren vergeblich gesucht hatte. Aber es gibt keinen Wegweiser, keinen erkennbaren Pfad. Kein Problem, man kann auch weglos zur Gipfelkapelle des Propheten aufsteigen, die ich nun sehen kann. Was ich aber heute nicht vorhabe. Noch etwas weiter, und endlich, endlich, wird vorne mein Ziel sichtbar, rückt die Chora ins Blickfeld. Von hier aus ist gut die Senke zu sehen, in die sie sich kauert, versteckt von meerischen Blicken.
Es ist aber noch eine Dreiviertelstunde bis ich sie erreiche, die letzten Meter stolpere ich mehr als ich gehe. Verschwitzt vom Aufstieg, abgekühlt vom Wind - egal, gleich rein in das nette Café Fotodotis am Ortseingang, ein Schattenplatz, andere hat es nicht. Mia bira, mia lemonada kai ena dako, parakalo! Das schmeckt, und wird meiner Gesundheit allerdings nicht zuträglich sein, auch wenn ich mir schnell meine Windjacke überziehe: am nächsten Tag fange ich zu husten. Ein Tee wäre die bessere Wahl gewesen.
Es ist 15 Uhr zwanzig, ich war etwas über fünf Stunden unterwegs.
Die Outdoor-App weist eine Strecke von 13,7 Kilometern und eine reine Gehzeit von vier Stunden aus, außerdem 713 Höhenmeter hinauf und 423 hinab. Das ist deutlich mehr als ich gerechnet hatte, und ich bin stolz auf mich.
Lange bleibe ich nicht alleine, denn in der Nachbarschaft sind heute Konrad und Margarete, in der Frühe von Astypalea kommend, eingezogen, und Konrad kommt dann auch gleich vorbei und leistet mir beim Essen Gesellschaft. Sie haben wie ich bei Thomas ab Egiali ein Auto geliehen und die nächsten zwei Tage werden wir zusammen unterwegs sein.
Am Abend gehen wir zusammen im "Kastanis" essen. Im Gastraum üben zwei Männer Geige und Gitarre. Wir setzen uns nebenan und lauschen, aber leider ist die Probe schon zu Ende. Auf der Speisekarte steht Fischsuppe, und die lasse ich mir natürlich nicht entgehen. Schmeckt gut, und ist mit zehn Euro für den Teller auch preislich im Rahmen.
Ich verabrede mich mit Konrad und Gretel für morgen um Viertel nach zehn. Alt-Arkesini ist unser Ziel.
*
Das Wetter bleibt kühl und windig, aber da die Sonne scheint, ist es optimales Wanderwetter. Denn auch heute werde ich die Wanderstiefel schnüren. Mit Konrad und Gretel und reichlich Fotohalten geht es nach Vroutsi, wo wir den Mietwagen abstellen. Konrad und ich wollen nach Alt-Arkesini hinab wandern, Gretel, die nicht gut zu Fuß ist, wird ein Stückchen mitkommen. Ich werde dann die Küste entlang über Agii Saranda und Marmara nach Katapola gehen (Weg Nr. 3), während Konrad und Gretel umkehren und weiter in den Inselwesten fahren. Das Mohnfeld bei Kolofana habe ich ihnen natürlich ans Herz gelegt.
Nach Alt-Arkesini sind es etwa zwei Kilometer, und 200 steile Höhenmeter abwärts, die der arme Konrad nachher wieder hinauf muss, während ich auf einen weniger weit oben gelegenen Weg entlang der Küste hoffe. Ich bin diese Wanderung vor zwanzig Jahren zusammen mit meiner Mutter schon mal gewandert, im heißen Juni und von Arkesini aus, aber ohne den Abstecher zur Ruine auf dem Felsensporn. Schon nach dem Stück von Arkesini bis Vrouti waren wir schweißtropfend in einem Kafenio eingekehrt, dessen Wirtin vor Entsetzen über unsere "Tortur" ungläubig die Hände rang und ein ums andere Mal "Panagia mou" ausrief. War es das Kafenio "Klimataria"?
Erster Zwischenhalt ist heute an der Kirche Agios Ioannis Apokefalisthis (Johannes der Enthauptete, also Johannes der Täufer) auf halber Strecke. Auf einer kleinen Anhöhe befindet sich die Kapelle in klassischem Kykladen-Weiß-Blau und blickt hinab nach Alt-Arkesini, auch Kastri genannt.
Die Steilheit des Weges geht in die Knie, Gretel hat schon vorher den weiteren Weg verweigert. Und wir sehen, dass sich am Kastri ein Haufen Leute befindet. Offenbar eine Wandergruppe. Wir treffen sie am tiefsten Punkt, bevor es steil Stufen hinauf zum Kastri geht. Es sind die italienischen Wanderfreunde, 23 an der Zahl. Wir lassen sie passieren, was länger dauert. Auch sie wollen nach Katapola wandern, aber sie nehmen den oberen Weg, müssen also wieder hinauf nach Vroutsi. Mhh, wissen sie nicht, dass es hier einen direkteren Weg gibt? Sind sie Masochisten? Wobei: sind wir Wanderer in Griechenland das nicht alle irgendwie? Oder gibt es den Weg gar nicht? Doch, es gibt ihn, er zweigt an einem Felsen ein Stückchen weit östlich ab und er ist sogar beschildert: 55 Minuten nach Kamari und eine Stunde fünfzig bis Lefkes. Nachher, nun erst durch ein Törchen und steile Stufen hinauf auf den Burgfelsen.
Alt-Arkesini war eine von mehreren antiken Städten auf Amorgos. Gegründet 900 vor Christus war es bis ins Mittelalter bewohnt siedelt und wurde dann verlassen. Heute sieht man dort, wie in vielen vergleichbaren Burgbergen, außer Mauern und Steinen nicht mehr viel. Aber man hat eine wunderbare Aussicht gen Norden auf die kleinen Kykladen und Naxos. Und dann gibt es die weiße Kapelle der Panagia Kastriani, die aber leider abgeschlossen ist. Trotz fleißiger Suche können wir den Schlüssel nicht finden, da hätten wir wohl in Vroutsi fragen müssen. Aber egal, wir genießen einfach die Atmosphäre dieses Ortes und die Aussicht auf den spannenden Küstenverlauf und die erodierten Terrassenmauern, die grafische Muster in die Hügel zeichnen. Das Meer leuchtet ultramarin mit ins türkisen Rändern und weißem Schaumsaum. Ein Traum!
Und wir sehen die italienische Wandergruppe, in einer immer länger werdenden Kette den Hang nach Vroutsi erklimmend. Konrad wird ihnen folgen, eine mühsame Stunde wird er hinauf brauchen.
Ich habe es besser und bleibe auf der Höhe, wandere, erfrischt vom Wind oberhalb der Küste entlang.
Interessant der Blick zurück zum Burgberg, aber auch die Gestaltung der endlosen Trockensteinmauern oder die überraschende Quelle bei Pigi. Ok, bei dem Namen hätte man es vermuten können. Aber Namen sind das eine, und die Realität das andere.
Tatsächlich kommen mir einmal auch zwei Wanderer entgegen.
Nach Pigi wendet sich der Weg von der Küste ab und führt südwärts entlang eines Tales Richtung Kamari. Frischgrüne Grasbüschel, garniert mit roten Mohntupfen und weißen Margeriten. Weich in die Hänge gezeichnete Ex-Felder, längst wieder der Natur überlassen.
Ich bin etwa fünfzig Minuten unterwegs, als ich auf der anderen Talseite eine große Gruppe Menschen sehe. Es sind die Italiener, die von Kamari kommend nun hier am Weg rasten. Ich war da schneller, scheint mir, laufe das Tal aus und hole sie ein. Sie sind gerade im Aufbruch und zwingen mich nun zu beschleunigtem Schritt, denn ich will nicht hinter der Gruppe herlaufen, die sich schnell in die Länge ziehen wird. Dafür treibt die Gruppe mich nun vor sich her.
Der Weg ist gut sichtbar und gelegentlich bezeichnet. Er führt nun wird nach Nordosten und bleibt weiterhin auf einer Höhe hoch über der Küste. Bei einem verfallenden Gebäude ist die Fortführung
zunächst unklar, außerdem muss ich mich durch verschnürtes Doppeltor fuchsen. Ich bin nett und lasse die Tore für die Italiener nur lose verschnürt, gebe dadurch ein Stück meines Vorsprunges auf.
Aber die werden lange brauchen zu Orientierung - sehen sie mich nicht? - und so gewinne ich ihn wieder. Hinter dem Tor führt der Weg links bergab, erst ein gutes Stück später durch einen roten
Punkt bestätigt. Zum Glück bin ich richtig, aber ich hatte auch keinen anderen Weg gesehen.
Jenseits des Tales zeigt sich in der Ferne die Chora vor dem Profitis Ilias. Bei der Planung hatte ich erwogen, bis dorthin zu wandern statt nach Katapola, über Ai Gorgi Valsamiti. Aber das ist
ordentlich weit, und die letzten Kilometer auf der windumtosten Straße? Nicht schön. Dann doch lieber runter ans Meer und mit dem Taxi in die Chora.
Violette Büschel blühenden Thymians wachsen am Weg, der auf einer Mauer hinab zum Talboden führt. Die Doppelkapelle der Agii Saranda unten kann ich schon sehen, sie liegt aber ein Stück abseits des Weges, und das spare ich mir jetzt.
Im Talboden quere ich ein wasserführendes Bächlein und finde vor der Kapelle der Agii Pantes einen optimalen Platz für ein Rast. Immer ein Auge auf die Italiener, die aber noch weit oben am Hang zu sehen sind. Etwa einen halben Kilometer von der Kapelle entfernt am Ende des Tales lockt das Meer zum Bade. Allerdings sind solche Buchten gen Norden gerne verschmutzt und vermüllt. Ob sich der Abstecher lohnt? Ich entscheide mich dagegen, und als die ersten Wanderer links den Bach überqueren, wandere ich weiter, nun wieder aufwärts. Ich war ja schon fast auf Meereshöhe. Von etwas weiter oben kann man den breiten Sandstrand gut sehen, vielleicht hätte das Bad doch gelockt. Aber ich werden in diesem Urlaub noch genug ins Meer kommen, und Teer merkt man erst, wenn er an den Füßen klebt. Ob die beiden Touristen, die mir nun badeschuhtragend entgegenkommen, auch ans Meer wollen? Viel Spaß!
Am Horizont kann ich die Kapelle und den Leuchtturm am Kap Agios Ilias sehen.
Das Ende des stetig ansteigenden Monopati mündet bei den Häusern der Siedlung Agia Theka in eine fette befestigte Straße, extrabreit. Panagia mou, war das früher nicht nur ein Staubpiste? Offenbar hat man hier zur besseren (touristischen?) Erschließung richtig Geld in die Hand genommen und kann nun Agia Thekla und Lefkes ab Marmara auch dreispurig erreichen. Die Straße von Katapola rauf nach Marmara hat man aber gelassen wie sie ist (werde ich später sehen), und so wird diese Autobahn Eingeweihten und Neugierigen vorgehalten bleiben.
Ich freue mich einerseits, dass ich meine Füße nun etwas schonen kann und auch den Wanderstock nicht mehr benötige, finde aber andererseits schon nach ein paar sich ziehenden Metern die herunterknallende Sonne und Wärme auf der glatten Straße weniger schön. Von Alt-Arkessini war ich bis Agia Thekla zweieinhalb Stunden unterwegs, bis Katapola wird es eine weitere Dreiviertelstunde dauern.
Draußen auf dem Meer braust eine Kette von Schnellbooten ostwärts, nach Katapola. Es sind rund ein Dutzend, jedes sich im hellen Streifen der Gischt des Vorderbootes anhängend. Was ist denn das? In Katapola werde ich es erfahren.
Auch Lefkes scheint man durch ein paar hübsche Feriendomizile erweiter zu haben. Nicht befestigt wurde aber die Piste zum Strand von Agios Ioannis. Irgendjemand hatte gesagt, dass dieser durch die Abwässer von Katapola verschmutzt sei. Werde ich nicht vor Ort überprüfen. Stattdessen freue ich mich, als es ab der Stavros-Kapelle am Marmara-Sattel wieder abwärts geht. Mein Ziel Katapola ist nicht mehr weit. Ein letzte Blick zurück, wo ich den weißen Punkt des Panagia Kastriani auf seinem Burgfelsen noch sehen kann. Dann tauche ich in die Wiesen südlich von Katapola ein, verlasse die Straße weiter unten nach links und lasse mich vom vertrauten Wächter, der Agios-Nikolaos-Kapelle, begrüßen.
Plötzlich erschallt laute Nissiotika-Musik vom Hafen her. Scheint live zu sein. Was ist denn da unten los?
Ich beschleunige meinen Schritt, lasse den noch nicht geöffneten Botanical Park links liegen, und treffe an der Platia am Hafen eine Menschenmenge an, die um tanzende Kinder und drei Musiker steht. Seitlich sind Tische mit abgepackten Süßigkeiten aufgebaut. Dieser freudige Empfang gilt den Ärzten und medizinischen Helfern von +πλευση (symplefsi). Diese "fliegenden Ärzte" besuchen mit ihren schnellen Schlauchbooten bei ihrer diesjährigen Mai-Tour in zehn Tagen die Inseln Sikinos, Iraklia, Schinoussa, Amorgos, Kinaros, Levitha, Tilos, Pserimos und Kasos und bieten dort ihre ärztlichen Dienste kostenlos an. Es sind viele Spezialisten, etwa Internisten, Zahnärzte, Chirurgen, und selbst Tierärzte sind dabei. Und sie bringen auch gesponsertes medizinisches Gerät zum Verbleib auf die Inseln mit.
Ein Berg von Taschen mit medizinischer Ausrüstung stapelt sich entlang des Ufers, "Zahnarzt" kann ich auf einem Etikett lesen. Sie sind alle ehrenamtlich unterwegs, und werden nun vor Ort in verschiedenen Privathaushalten untergebracht.
Ich kann mir das nun in aller Ruhe ansehen, denn nachdem die Tanzvorführung vorbei ist, setze ich mich mitten ins Treiben ins Café Pothiti und erfrische mich mit Frappé und Kuchen.
Und ziehe das Fazit der heutigen Wanderung: 11,7 Kilometer in gesamt knapp viereinhalb Stunden, davon drei Stunden 15 Minuten reine Gehzeit. 409 Meter aufwärts, 657 Meter hinab. Ja, ist nicht schlecht. Durstig bin ich jetzt, und freue mich am kostenlosen, kühlen Wasser, das es zum süßen Kuchen gibt.
Lange nach mir treffen dann auch grüppchenweise die italienischen Wanderinnen und Wanderer ein. Und überhaupt füllt sich das Café mit Menschen in Wanderkluft unterschiedlichster Herkunft. Ein Hauch Grindelwald liegt in der Luft.
Gegen fünf Uhr sehe ich mich am Ortseingang nach einem Taxi um. Es ist keines da, aber telefonisch erreiche ich einen Fahrer. Er komme gleich, womöglich hab ich ihn in seinem Mittagsschlaf geweckt. Während ich warte, guckt Thomas aus seinem Autoverleih gegenüber. Was ich hier machen würde? Auf das Taxi nach Chora warten. Oh, er würde mich gerne hinauffahren, kostenlos. Sein nettes Angebot muss ich leider ablehnen, da der Taxifahrer ja schon bestellt und unterwegs ist. Es freut mich trotzdem.
Acht Euro kostet die Fahrt hinauf, wo ich nach einer erfrischenden Dusche entspanne. Der Wind hat etwas nachgelassen, endlich könnte es wärmer werden. Später unternehme ich noch einen Fotobummel zu den Windmühlen. Die umliegenden Inseln verschwinden fast im Dunst, das späte Licht zeichnet weiche Ränder. Wieder ein schöner Tag auf dem unvergleichlichen Amorgos!
Ich beschließe ihn mit Margarete und Konrad im "Corner" unten in Katapola bei ausgezeichnete Kleftiko.
Die Beiden waren nach Konrads anstrengender Rückkehr nach Vroutsi noch weiter im Westen bis Kalotaritissa, Agia Paraskevi und beim Wrack der "Olympia" und sind auch sehr zufrieden.
Morgen ist schon mein letzter Amorgos-Tag, da gehe ich es etwas gemütlicher an.