An der Südspitze Keas begrüßt uns der Leuchtturm am Kap Tamaleos. Theo würde ihn gerne besuchen, aber nach meiner Karte führt nur eine sieben Kilometer lange, unbefestigte Piste dorthin. Puh. Mal vor Ort gucken.
Im Vergleich zu Kythnos hat Kea einen grüneren Vegetations-Schimmer, der sich verstärkt je weiter wir nach Norden fahren. Die Küste ist zunächst abweisend und felsig, dann offen und durch Bautätigkeit geprägt. Im Bau befindliche, merkwürdige gleichförmige Bungalows ähneln Geschützständen. Ich kann nicht einordnen bei welchem Ort sie sich genau befinden. Irgendwann taucht dann über der vorderen Hügelkette der Hauptort Ioulida (auch Ioulis) auf. Er schwebt entrückt über den Niederungen der Küste. Als dann ein weiterer Leuchtturm im Blickfeld erscheint, ist Korissia nicht mehr weit und wir biegen in die Bucht hinter der Hafenmauer ein, vor der der Bug eines Wrackes sich gerade noch über der Wasserlinie erhebt. Am 16. März 2020 ist der kleine Tanker "Dorduncu", der mit 190 Flüchtlingen beladen war und eigentlich von der Türkei aus Italien ansteuern wollte, hier bei Sturm gestrandet. Die Menschen wurden gerettet, das Schiff rutscht hier von Woche zu Woche tiefer ins Wasser. Nach dem Winter wird es wohl ganz versunken sein.
Ich schüttle die Melancholie ab, die mich beim Anblick es Wrackes überkommt und freue mich auf Kea. Um halb zwölf verlassen wir unsere Fähre "Artemis" und steuern unser Quartier an, das zweistöckige "House in the port". Es liegt neben dem Hotel Karthea in einer Ecke der Uferpromenade und ist für Kea so etwas wie ein Sechser im Lotto. Denn die Quartiere hier sind entweder teurer, sehr teuer, oder stufenreich, oder alles zusammen. Ein bezahlbares und akzeptables Quartier mit zwei getrennten Schlafzimmern ist unter hundert Euro die Nacht kaum zu finden. Und so hatte Theo nach meinem Hinweis im Juni sofort gebucht noch ehe die Reise wirklich feststand. Für 63 Euro die Nacht (ja, das klingt jetzt nicht wirklich preiswert, aber suchen Sie mal selber nach Vergleichbarem).
Eigentlich kann ich gar nicht glauben, dass wir nun wirklich hier stehen. Und hoffe, dass die Treppe für Theo kein unüberwindbares Hindernis darstellen wird.
Die Vermieterin Chrysa samt Dackel erwartet uns im Haus. Dummerweise setzt Theo sich bei ihrer Frage "Englisch or Ellinika" akustisch nicht durch, und so wird die halbstündige Hauseinführung in Griechisch abgehalten, zur Theos steigendem Verdruss. Auch die steile Holztreppe ins erste Stockwerk nötigt zu sorgfältiger und vorsichtiger Begehung und - geschürt durch Chrysas (übertriebene) Befürchtungen - wird Theo erst nach einer schlechten Nacht auf dem Sofa im Erdgeschoss oben einziehen. Oben sind nämlich zweieinhalb hübsche Schlafzimmer (eines mit schmalem Holzbalkon zum Hafen) und das Bad nebst der Ahnengalerie im Treppenhaus - Chrysa stellt mir ihre Vorfahren en détail vor und erzählt mir einen Teufel voll Zeug, den ich entweder nicht verstehe oder gleich wieder vergesse. Eine noch steilere Treppe führt aufs Dach, aber dort wäre nichts außer dem Wassertank, wir sollten nicht hinauf.
Unten im Erdgeschoss befindet sich der großzügige Salon, die Küche und eine Toilette nebst einer grün überwachsenen Loggia, die unser bevorzugter Aufenthaltsort sein wird (und der der lokalen Katzen und Steckmücken - erstere aber nur in unserer Abwesenheit, im Gegensatz zu letzteren, leider).
Dass das Haus auch gelegentlich von der Besitzerfamilie selbst bewohnt wird, merkt man nicht nur an der kompletten Küchenausstattung, der Duschgel-Sammlung im Bad und der umfangreichen Hausapotheke, sondern auch an vielen anderen Details (Schubladen und Schrankfächer sind gut bestückt, das W-Lan ist ausgezeichnet, den Flachbildschirmfernseher werden wir aber so wenig brauchen wie die Waschmaschine und die Tiefkühltruhe), die uns zunächst überfordern, die wir aber bald zu schätzen wissen. Vor allem in der Küche, wo nicht nur eine umfangreicher Obstschale unser Frühstück in den nächsten Tagen bereichern wird, sondern auch Kaffee, Honig, Marmelade, Wasser und Gebäck zu unserer Verfügung stehen. Man fühlt sich hier wirklich zu Gast und nicht als Fremder.
Chrysa hat noch eine Wohnung oben in Ioulida, wohnt aber in Attika, wohin sie am Nachmittag mit der Fähre zurückkehren wird, um erst am nächsten Montag zurückzukehren. Sie gibt das Haus also vertrauensvoll in unsere Hände (und hat sicher Nachbarn, die ein Auge auf uns haben werden). Ich werde bis Samstagabend bleiben, und Theo noch zwei Nächte länger wenn es ihm auf Kea gefällt. Es wird.
Es dauert bis wir uns auf den zwei Stockwerken einrichten, dann treibt uns der Hunger aus dem Haus. Entlang der Paralia vor zum Anleger begutachten wir die Geschäftslage: Restaurants, Cafés, Grillstuben, Reisebüros, Handwerker, Metzger, ein, zwei Boutiquen, ein Bäcker (einen zweiten gibt es in dritter Reihe). Keine Apotheke. Wir werden ein Auto benötigen, es gibt in der Nachsaison keine Busse auf Kea. Ob wir dafür wieder zum Bäcker müssen? Nein, ich entdecke an der Paralia einen geöffneten Autoverleiher namens "Leon" und frage dort nach den Preise. Er möchte 35 Euro pro Tag für einen Kleinwagen, ohne Rabatt bei längerer Leihdauer. Hoppla, das ist teuer! Da werden wir uns auf einen oder maximal zwei Tage beschränken müssen, wenn wir keine preiswerte Alternative finden. Anfragen über das Internet bleiben aber alle unbeantwortet, bleibt die Hoffnung, dass einer der anderen Autoverleiher irgendwann in seinem Laden anzutreffen ist und bessere Angebote hat.
Ich frage einen Taxifahrer nach den Kosten für die Fahrt nach Ioulida: acht Euro. Gut, damit lässt sich rechnen und für morgen wird das reichen.
Auf der Uferseite der Paralia liegen zahlreiche Segler. Interessant, offenbar ist Korissia für sie zur echten Alternative zu Vourkari geworden.
Zunächst kehren wir aber im "Lagoudera" nahe dem Fähranleger ein. Das Lokal gab es schon vor 15 Jahren und es war damals mein bzw. unser Stammlokal. Auch jetzt können wir über griechischen Salat, Tsatsiki und Keftedakia samt Weißwein nicht meckern, mit 25 Euro ist das Essen auch preislich im Rahmen. Verführerisch zieht der süße Duft von Backwaren aus der nebenan gelegenen Bäckerei herüber, die eine beeindruckende Auswahl an Köstlichkeiten offeriert. Ich kann nicht widerstehen und kaufe präventiv ein paar Kekse.
Später teste ich den örtlichen Strand, der nur über die Uferstraße von unserem Quartier beginnt. An der westlichen Seite ist der Sandstrand nur mäßig sauber und scheint auch als Katzenklo zu dienen, aber je weiter man nach Osten geht, desto besser wird er. Es geht sehr sanft ins Wasser, optimal für Kinder. Unterhalb des Felsens mit der Agios-Georgios-Kapelle kann man auf Felsenplatten auch schön sitzen. Sonnenliegen und -schirme gibt es nicht, und auch die Strandbar des hinter der Uferstraße gelegenen Edel-Hotels Porto Kea Suites ist schon geschlossen.
Im Hafen geben sich die "Makedon" und die "Artemis" ein Stelldichein. Es ist die vorletzte Tour der "Makedon" vor der Winterpause, die "Marmari Express" wird übernehmen. Die "Ionis", die im Sommer auch hier unterwegs war (und früher die Route nach Kythira gefahren ist), ist auch schon im Winterschlaf, die Fährverbindungen werden dünner. Die "Artemis" kommt eh nur zweimal die Woche vorbei, sie verbindet Kea mit der zuständigen Verwaltungsstadt Ermoupoli auf Syros.
Na, Hauptsache ich komme am Samstag rüber nach Lavrio. Und möglichst nicht zu früh am Morgen. :-)
Auf der Suche nach weiteren Autoverleihern erkunde ich noch das hinter dem Strand liegende Viertel. Es gibt diverse Unterkünfte, aber alle nicht so schön gelegen wie unseres. Auch einige Mietwagenverleiher sind hier ansässig, aber niemand anzutreffen. Auch die Apotheke ist ganz geschlossen, per Aushang wird auf die in Ioulida verwiesen. Neben dem Hotel Karthea hat es einen großen Supermarkt, und gegenüber ist der Taxistand. Somit haben wir alles, was wir in den nächsten Tagen brauchen, in Reichweite.
Fünf Tage hab ich jetzt Zeit für Kea, und einige Pläne. Wandermäßig vor allem, denn auch Kea hat aufgerüstet und Wanderwege ausgewiesen, zwölf an der Zahl, mit Varianten sogar 16. Allerdings leider kaum Rundwanderungen, und ohne Busse? Mal sehen ob sie halten was sie versprechen. Nach den Erfahrungen von Kythnos bin ich eher verhalten optimistisch.
Nahe bei unserem Haus liegt auch das Restaurant "Rolandos", in das wir am Abend einkehren. Ich erinnere mich, dass es früher noch oben in Ioulis war, offenbar sind unten am Hafen bessere Geschäfte zu machen, vor allem mit den solventen Seglern. Ob die deutsche Gruppe vom Nachbartisch dazu gehört, lässt sich nicht ausmachen, aber sonst sind wir gezwungen, ziemlich viel der laut- und meinungsstarken Darbietung des feisten älteren Tischherren mitzuhören, der offenbar mit Frau und Tochter sowie deren blassem Freund unterwegs ist. Ob der Wirt Rolandos die plumpe Anbiederung geschäftsmäßig erträgt oder tatsächlich Gefallen daran findet? Er kommt von diesem Tisch kaum mehr weg, aber glücklicherweise ist der flinke Kellner zu unseren Diensten, bringt uns erst ein Tellerchen Fava aufs Haus und dann Theo den bestellten Hühnchenspieß und mir ein ausgezeichnetes Sofrito, eine Spezialität der Insel Korfu, von der Rolandos stammt. Zwei dicke Scheiben des sauerbratenähnlichen, mit Knoblauch würzig abgeschmeckten Rindfleisches bekomme ich serviert, und muss leider einen großen Teil davon ungegessenerweise zurücklassen - zu mächtig die Portion. Oder ist mir die Großkotzigkeit des Nachbartischherren auf den Magen geschlagen, wo nun, untermalt von jovialer Großspurigkeit, eine große Fischplatte serviert wird?
Egal, wir fliehen beizeiten, und sind auch müde.
Morgen möchten wir uns Ioulida ansehen, und ich will etwas wandern.