Doch, da kann man zunächst nicht meckern - das Wetter ist gut, die Sonne scheint. Für den Nachmittag sind allerdings Gewitter prognostiziert, was wir nicht so recht glauben wollen. Und dann soll sie anrollen, die Kältewelle.
Lothars Auto wurde an der Paralia eingeparkt, aber auf ein dauerhaftes Hupen kommen gleich zwei Fahrzeugbesitzer um den Weg frei zu machen. Wieder geht es um Chora herum und auf einem Umweg über Agidia und Agios Thalleleos (nie gehört - was ist das denn für ein Heiliger?) - wir haben eine Abzweigung verpasst - nach Melanes. Vor dort wollen wir die Wanderung Nr. 4 aus dem MM-Naxos-Reiseführer machen, zu den Potamia-Dörfern und den Kouri. Zehn Kilometer, vier bis fünf Stunden. Mit ein paar Abweichungen vielleicht, falls Bäche unvermutet Wasser führen. Das letzte Jahr war auch auf dem wasserreichen Naxos viel zu trocken, seit Februar hatte es kaum geregnet, im Herbst kam in Chora das Wasser oft nur noch stundenweise oder gar nicht aus der Leitung. Im November wurde dann beim Dimarchio eine Meerwasserentsalzungsanlage für die Stadt eingeweiht, und etwas Regen sorgte für Erleichterung. Insofern ist man überall hier froh über jeden Regen, auch wenn ich gehofft hatte, dass er sich nicht gerade in der ersten Januarwoche entlädt.
Um kurz vor elf parken wir das Auto am Ortseingang von Melanes und wandern aufwärts durch den Ort. Vorbei am Freiheitsdenkmal, und dann eine lange Treppe hinauf. Barbara wird feststellen, dass in diesem Urlaub die Wege irgendwie immer nur aufwärts und nie abwärts führen - erstaulich bei Rundwanderungen. Ein Mysterium à la M.C. Escher?
Lothar wird es warm, er muss nämlich zurück um das im Auto vergessene Vesper holen. Wir lassen solange den Blick über das grüne Mühlental und die Dörfer Kourounochori und Mili schweifen. Dahinter eine vom Marmorabbau angefressene niedrige Bergkette.
Entlang eines weiten und grünen Tales wandern wir südwärts und erreichen nach einer halben Stunde die Ruinen des Klosters Kalamitsia. Es handelt sich um ein ehemaliges Jesuitenkloster, im 17. Jahrhundert gegründet und im 19. Jahrhundert wieder verlassen. Es gehört heute dem griechischen Staat, und der lässt es verfallen. Wir finden das nicht so schlimm, denn die Ruine ist äußerst fotogen und es macht Spaß, durch die leeren Räume zu gehen.
Das Hauptgebäude hat eine hohe Gewölbe und Marmorplatten auf dem Boden, man würde es ja für die Kirche halten, aber die befindet sich außerhalb, und ist nur klein. Ställe, Keller, Durchgänge, zwei gedeckte Kamine - sehr hübsch hier. Im dem Tal zugewandten Garten ragen eine Palme und einige hochstämmige Zypressen in die Höhe. Oberhalb des Gebäudeensembles steht ein tonnengewölbtes Häuschen: ein Taubenhaus. Ja, die Jesuiten wussten was schmeckt, zumal das Kloster hier eine Art Erholungsheim für müde Mönche gewesen sein soll.
Weiter am Tal entlang geht es nach Süden, wir begegnen auf einer kleegrünen Wiese einer großen Gänseschar, was die Frage aufwirft, wann Gänse ein Griechenland eigentlich gegessen werden. Diese haben Weihnachten lebend überstanden und ziehen unter heftigen Geschnatter durchs Gelände. Gänsemarsch? Nein, nicht hintereinander, sondern im Schwadron. Richtig laut wird es, als sie flatternd einen steilen Rain erklimmen. Nette Viecher.
Wenig später stoßen wir auf eine Straße, von dort aus können wir das unterste der Potamia-Dörfer liegen sehen. Vorbei an einer hübschen Kapelle und üppig tragenden Orangenbäumen geht es durch ein kleines Tal, danach sind wir auch schon in Kato Potamia. Der Reiseführer erzählt etwas von einem schattigen Rastplatz im Kirchhof, aber wir sind nicht auf Schatten aus, und müssen auch etwas aufs Tempo drücken - die Sonne ist einem hellen Wolkenhimmel gewichen, und vielleicht hat die Wetterprognose doch recht mit ihren Gewittern.
Halten wir uns zunächst noch an die Wanderbeschreibung und folgen der Beschilderung nach Mesi Potamia und zum Kokkos Pyrgos, so finden wir sie ab der - natürlich geschlossenen - Taverne Basiliko etwas verwirrend. Außerdem wollen wir nicht ins Bachbett hinab: es mag im Sommer Erfrischung versprechen, jetzt brauchen wir das aber nicht. Wir bleiben also auf unserer Seite des Tales, gehen eine steile Rampe hinauf und sehen links bei der Schule von Mesi Potamia einen geeigneten Rastplatz. Auf der Einfassungsmauer kann man gut sitzen, wenn man davon absieht, dass sie winterkalt ist. Da bewährt sich wieder das kleine Sitzkissen aus meinem Rucksack, und auch die anderen finden eine isolierende Unterlage.
Allzu viel Zeit dürfen wir uns aber nicht gönnen, marschieren weiter Richtung oberstes Potamia-Dorf. Ein Stück auf der Straße, dann müsste der Fußweg links abzweigen. Da ist auch eine Übersichtstafel mit eingezeichnetem Weg, die meine Orientierung verwirrt. Ich hab das Gefühl, dass der eingezeichnete Standort nicht stimmt. Auf alle Fälle machen wir danach eine völlig unnötige, aber nur kleine Schleife Richtung Ano Potamia, nur um uns kurz danach wieder an der Straße und der richtigen Abzweigung wiederzufinden. Wahrscheinlich sollten wir uns den Platz an der Kirche angucken.
Entlang des Friedhofes geht es nun auf einem guten Fußweg zwischen Mauern leicht aufwärts, bis wir eine karge Hochebene erreichen. Mauern und grüne Wiesen - sieht so nicht Irland aus? Mit dem grauen Himmel dazu? Nur die umrahmenden Berge passen nicht so recht in dieses Bild.
Etwas später weist ein Pfeil den Weg nach rechts zum Kouros von Potamia. Natürlich folgen wir ihm, und einem schmalen Pfad, der uns zu dem versteckteren und weniger bekannten steinernen Naxos-Jüngling bringt.
Er liegt fußlos an einem Hang, den Kopf tiefer gelagert. Und das schon ziemlich lange - er ist aus dem 6. vorchristlichen Jahrhundert. Ein Totalschaden bei der Produktion. Daneben steht ein Fußpaar aus Marmor, etwa Schuhgröße 60. Ob der zu ihm gehören? Der marmorne Jüngling ist fünfeinhalb Meter lang, aber ist das nicht dennoch etwas groß? Gesicht hat er auch keines, noch ein irreparabler Schaden, nach dem er einfach im Steinbruch liegengeblieben wurde. Wie so oft in Griechenland, zur Freude nachfolgender Generationen. Unser Müll wird wohl mal weniger Freude machen.
Der Himmel hat sich weiter verfinstert, ich meine Donnergrollen zu hören. Und sehe im Nordosten einen Blitz. Weit entfernt zwar noch, aber ein Gewitter wäre hier doch ziemlich ungemütlich, auf einer weiten Fläche ohne Schutz.
So gehen wir schnell hangabwärts und erreichen kurz darauf ein üppig bewachsenen Tal, gehen dort entlang bis ein weiterer Wegweiser links wieder auf einen Kouros verweist, dieses Mal den von Flerio. Er liegt nur ein paar Meter abseits des Weges, ist etwas größer als der von Potamia, hat noch ein Gesicht, aber das rechte Bein gebrochen. Wenn man überlegt, wie viel Arbeit die Bildhauer schon investiert hatten ehe es zum Schaden kam, dann war das wohl eine ziemlich ärgerliche Sache. Für den Kouros ist es aber schöner, hier unfertig im Schatten eines Gartens zu liegen, als in einem trockenen Museum zu stehen.
Für den Rückweg nach Melanes nehmen wir nun wetterbedingt - immerhin hat es aber nicht geregnet - nicht die Route der Wanderbeschreibung über Myli und Kourounochori, sondern den direkten Weg, eine breite Piste links oberhalb des Mühlentales. Die Ruinen einer Wassermühle kann man dabei von oben aus gut sehen.
Um halb vier sind wir wieder in Melanes und finden zu unserer Freude die Taverne "O Giorgis" geöffnet. Ein großes Lokal, und es sind einige Gäste hier. Wir bestellen Kraut-Karotten-Salat, ein typischer Wintersalat und sehr zu empfehlen. Dazu Feta im Sesammantel und Lachanodolmades, Wein, Tee, und zur anschließenden Wiederbelebung noch griechischen Kaffee. Schmeckt, und tut gut. Vierzig Euro beträgt die Zeche, und müde und zufrieden fahren wir nach Naxos-Stadt zurück, wo uns der Regen am Abend dann doch noch erwischt.
Weil das späte Mittagessen nicht endlos anhält, sind wir am Abend in der Grilltaverne "Kozi" am Ufer Richtung Grotta. Durchgefroren suchen wir die Nähe zum Holzofen, aber im Laufe des Abends müssen wir wieder etwas abrücken bevor wir Feuer fangen. Das gebotenen Essen - gleich noch ein Kraut-Karottensalat, Dakos, Kaninchenstifado und Lamm vom Grill (Lothars Wahl - zu zäh für meinen Geschmack) - kommt sehr schnell und ist solide ohne große Schnörkel.
Es ist Samstagabend, morgen ist auch noch Feiertag, Ferien sind sowieso, und das Lokal wird ordentlich voll mit griechischen Familien, die tropfnass vor dem inzwischen kübelnden Regen hereinflüchten. Januarurlaub auf Naxos - Urlaub unter Griechen.
Schließlich kehren wir noch ins Naxos-Café ein, wo zwei junge Musiker - Pantelis Karanikas und Vangelis Kaklamanos - mit ihren Gitarren für ziemlich gute Live-Musik sorgen. Es sind die Lieder von Sängern wie Alkinoos Ioannidis oder Sokratis Malamas, die bei der eher jüngeren Zuhörerschaft gut ankommen. Und bei uns auch. Ein gelungener Tagesausklang.
Die Wetterprognosen für die nächsten Tage sind winterlich: kalt, und sogar von Schnee ist die Rede. Wir beschließen, das einfach mal nicht zu glauben.
Schnee auf Naxos, das wäre ja nochmal schöner!
*
Am Sonntag ist der 6. Januar: Theofania - Taufe des Herren, und Wasserweihe. Junge Männer tauchen im Meer nach dem Kreuz, das der Pappas dort hineinwirft. Das wollen wir uns natürlich nicht entgehen lassen. Allerdings waren die Fragen an die Einheimischen, wann das Ganze denn stattfinden würde, von der obligatorischen griechischen Unbestimmtheit geprägt. Am Vormittag auf alle Fälle, irgendwann zwischen zehn und zwölf Uhr. Und im Meer natürlich, am Hafen. Gut, das würden wir im Blick haben.
Haben wir auch, zumindest das kleine hölzerne Podest, das am Fischerhafen unweit des Anlegerplatzes der "Scopelits" aufgestellt wurde. Und um zehn Uhr völlig verwaist ist. Dito um halb elf, so dass ich mich aufmache und in der Mitropolis-Kirche nachsehe, wie weit man dort ist. Denn natürlich findet dort vorher ein Gottesdienst statt. Vor der Kirche ist ein Tank mit Wasser aufgestellt, samt Schlauchpipeline zur Nachversorgung. Das gesegnete Wasser werden sich die Leute nachher in kleine Flaschen abfüllen und mit nach Hause nehmen. Noch aber ist der Gottesdienst in Gange, ich habe mich gerade in die Kirche hineingeschafft als mein Handy klingelt. Lothar will wissen, ob schon etwas passiert. Nein, das dauert noch. Ich gehe wieder vor zum Hafen, gucke ob sich dort etwas tut. Nein, nichts.
Es ist tatsächlich saukalt heute, ich bin froh an meiner Mütze, die meine Ohren vor dem eisigen Wind schützt. Selbst wenn das Meer noch 15 Grad hat, dann ist das Kreuztauchen heute nichts für Weicheier.
Lothar ruft wieder an: wo ich wäre? Gerade wäre hier nach dem Kreuz getaucht worden. Ich bin durcheinander, denn hier bei mir ist ja noch nichts passiert. Kann nicht sein, dass ich das verpasst hätte. Die Erklärung ist einfach: es gibt mehrere Kirchengemeinden auf Naxos, und die der Pantanassa-Kirche in der südlichen Altstadt, bei Lothars und Thereses Quartier, haben ihren eigenen Gottesdienst samt Zeremonie direkt an der südlichen Paralia. Allerdings ist dort nur ein mutiger junger Mann neoprengeschützt nach dem Kreuz gesprungen. Dafür hatten Therese und Lothar von ihrem Balkon aus einen Logenplatz, während Barbara in unserem Quartier wartet und ich ungeduldig in und bei der Kirche herumtigere (der Pappas hat gesagt, man würde nun gleich hinuntergehen, es kann als nicht mehr lange dauern) und nun schnell wieder zum Hafen vorlaufe um Lothar zu treffen.
Gegen halb zwölf ist es dann so weit, und die Prozession kommt vor zum Hafen. Alle gut eingemummt, die Kreuzträger voraus, dahinter (wichtig!) die Träger des mobilen Lautsprechers, dann eine Ikone, gefolgt von vier Geistlichen (den einen erkenne ich wieder - er hat vor zwei Jahren auf Sifnos beim Chrissopigi-Panigiri vergeblich versucht, eine Katze mit Blicken zu vertreiben), dann die Gemeinde, darunter der Träger eines Käfigs mit Tauben. Auch die lokalen weltlichen Würdenträger sind natürlich dabei.
Sie streben dem Podest am Hafen zu, wo sich drei junge Männer schon badefertig gemacht haben. Zwei in Badehose und T-Shirt, einer in Neopren. Ein vierter - derjenige, der vorhin schon das erste Kreuz konkurrenzlos ertaucht hat - steht auf der anderen Seite des Hafens, er will offenbar nochmals. Man muss das Glück auch zwingen.
Die Geistlichkeit begibt sich auf das Holzpodest, die erwartungsvolle Gemeinde und die nicht minder erwartungsvollen Zuschauer reihen sich entlang des Ufers auf, Handys und Fotoapparate im Anschlag.
Die Liturgie dauert an, aber schließlich nimmt der eine der Papades (der Archimandrit?) das Kreuz und wirft es ins Wasser. Da das Kreuz mit einem zehn Meter langen, breiten Band befestigt ist, zieht er es direkt wieder an Land und wirft es nach kurzem erneut. Begleitend wird zu diesem Akt wohl jedes Mal eine Taube fliegen gelassen, ich gucke aber etwas ins Gegenlicht und kann das deshalb nicht sehen.
Beim dritten Mal ist das Kreuz dann ohne Band, und der Papas wirft es weit. Viel weiter als gedacht, quer hinüber Richtung Stadt. Die drei jungen Männer hechten ins Wasser und kraulen los, mir bleibt fast das Herz stehen. Der vierte kommt von links, aber er kommt zu spät - schon hat einer der anderen das Kreuz erwischt, das auf der Oberfläche geschwommen ist und so den Tauchgang erspart. Er hält es in die Höhe, küsst es. Vom Ufer ertönt Jubel und das Hupen einer Schiffssirene, die drei anderen küssen das Kreuz auch und begleiten den Sieger zurück zum Ufer, wo er den Segen des Pappas erhält. Und dann frierend dasteht - es ist einer der Jungs in Shirt und kurzer Hose. Wir hätten ihm unseren Bademantel mitbringen sollen...
Die Gemeinde zieht dann wieder ab, schnell ins Warme, oder zurück in die Kirche. Die Cafés an der Paralia sind voll, die Sonne schafft es gelegentlich durch die Wolken, aber es bleibt kalt.
Und wir?