In der Nacht kommt er dann doch, der Wettersturz. Pünktlich zum 1. Oktober. Es gewittert und gießt wie aus Kübeln. Die Temperaturen sind aber noch im angenehmen Bereich. Unser erstes Frühstück auf Chios können wir aber nicht auf dem Balkon einnehmen, sondern in der (ausgezeichnet ausgestatteten) Küche im Erdgeschoss. Dieser Raum in dem alten Gebäude hat eine Deckenhöhe von bestimmt drei Metern.
Gelegenheit, endlich ein paar Postkarten zu verschicken. Briefmarken und Postkarten (und Briefumschläge zur schnelleren Beförderung der Karten) gibt es in dem kleinen Lädchen neben dem Mini-Minimarkt, das auch als Poststelle fungiert. Vorsicht, das nasse Pflaster ist rutschig!
Um die Mittagszeit wird uns das Herumsitzen langweilig, der Regen lässt auch nach. So fahren wir nach Pyrgí, in die Stadt des dunkelgrau-weißen Kratzputzes namens „Xistá“. Wir parken in der Nähe des Stadions (auch mit Kratzputz versehen natürlich – olympische Motive) und gehen zu Fuß in den Ort. Schon nach wenigen Schritten (der Regen hat zum Glück ganz aufgehört) flimmern uns von den Häuserfassaden die wilden, meist geometrischen Muster entgegen.
Ganz schön kleinkariert! Natürlich sind auch Kapellen geschmückt, ebenso wie Balkonunterseiten, und eine sich schüchtern auf einem Autoreifen versteckende Katze trägt natürlich auch ein grau-weißes Fellkleid.
Die Häuser von Pyrgi sind nicht so alt wie die von Mestá – das verheerende Erdbeben von 1881 hat hier ganze Arbeit geleistet. So ist das älteste erhaltene Kratzputz-Haus aus dem Jahr 1857 – und ganz viele der Kratzputz-Häuser stammen aus neuester Zeit (die Jahreszahl sind häufig in das Ornament eingearbeitet). Auf alle Fälle ist es ein Festessen für Fotografen, und als dann erstens die Sonne etwas herauskommt, und zweitens die erste Mastix-Sortiererin in einem Hauseingang sitzt, da fühlen wir uns richtig angekommen auf Chios.
Über den Mastix-Anbau auf Chios ist viel geschrieben worden, das spare ich mir jetzt. Wer es genauer wissen will lese nach bei wikipedia, Politismos oder theopedia. Aber wie mühselig das Verlesen des Baumharzes Mastix ist, das sieht man hier bei der Frau. Hundert bis hundertfünfzigtausend Tonnen soll die Mastix-Produktion auf Chios im Jahr sein (Quelle - kommt mir irgendwie zwei oder drei Nullen zu viel vor) – 150.000 Tonnen handverlesene Harztränen von zwei, drei Gramm. Wenn das keine Sisyphosarbeit ist! Aber die Entlohnung ist gut, und natürlich bekommt man überall auf der Insel die Mastixprodukte: Mastixlikör, Ouzo mit Mastix, Kaugummi, Bonbons, Joghurt, Loukoumia, Halvadopittes, Cremes, Kosmetika. Von der unauffälligeren Verwendung in der Pharmazie und Chemieindustrie ganz abgesehen. Die Mastixläden gibt es Griechenland (www.mastihashop.com/) - und weltweit, (New York, http://www.mastihashopny.com/ - auch Rezepte), man ist unglaublich stolz auf dieses Inselprodukt, das es nur auf Chios gibt.
Unweit der Platia von Pyrgi hat es einen größeren Laden, da können wir den Mastixlikör probieren. Etwas gewöhnungsbedürftig – wir würden mal gerne Ouzo mit Mastixkomponente versuchen. Gibt es aber nur in großen Flaschen – zu viel. Kaufen stattdessen ELMA-Kaugummi und eine Mastix-Handcreme sowie ein paar Fläschchen Likör als Mitbringsel. Und haben nun Hunger. Dummerweise ist an der Platia aber kein Lokal geöffnet, lediglich ein Kafenion, aber da sitzen nur Männer, und zu essen scheint es da auch nichts zu geben. Wir fragen in einem Laden – die Taverne Kanios an der Platia müsste geöffnet sein. Ist sie aber nicht. Ich dachte, Pyrgi wäre eine Touristenattraktion und es gäbe wenigstens eine geöffnete Souvlakibude. Stattdessen steht zwar die ganze Platia voll mit Tischen und Stühlen, aber nirgends gibt es etwas. Auch der Bäcker hat zu. Von dem Lokal in dem alten Kratzputz-Eckhaus an der Platia ganz zu schweigen, trotz den signalroten Tomatenketten. Nach dem Regen findet der Tourismus in Pyrgi nicht statt. Wir sind enttäuscht (und froh, dass wir kein Zimmer in Pyrgi ausgewählt haben).
So zotteln wir noch etwas durch die Stadt auf der Suche nach Essbarem (kaufen schließlich Chips für ein Picknick im Grünen), gucken ob die alte Kirche Agii Apostoli geöffnet ist (ist sie natürlich nicht), fotografieren Xista und Tomatenketten, treffen noch eine Mastixsortiererin und sehen uns die Überreste der alten Fluchtburg an – nicht in Xista-Grau-Weiß und eher vernachlässigt.
Es ist drei Uhr als wir Pyrgi verlassen. Wir wollen zur Küste und uns dort irgendwo die Chips einverleiben – haben wir Kohldampf. Die Mutter sagt noch „wenn jetzt irgendwo ein netter Landgasthof am Weg liegt, dann halten wir“, was von mir mit Hohngelächter beantwortet wird. Landgasthof – träum weiter.
Aber wenige Minuten später, an der Straße nach Emborios, liegt doch tatsächlich eine Taverne an der Straße. Und die ist geöffnet wie wir den dort sitzenden Gästen entnehmen können. Vollbremsung, und schlammspritzendes Wendemanöver. In der einfachen Taverne gibt es Fassolada und einen griechische Salat – samt Getränken kostet das Essen gerade mal zehn Euro. Und wir müssen vor der stechenden Sonne schon wieder den Schatten suchen. Yeah – eigentlich kann man sich in Griechenland immer auf die Gastronomie verlassen wenn man sie nicht braucht. Pyrgi ist eine unrühmliche Ausnahme.
Weiter geht es nach Emborios. Im an einer hübschen Bucht gelegenen Mini-Ort und an der Uferkreuzung ist die Straße überschwemmt (im Bachbett gebaut - Regenfälle und hohe Wellen, zur Freude von drei Gänsen), wir müssen zurückfahren und am Ortsbeginn parken weil wir unsere Reifen und Unterboden schonen wollen. Der Ort ist schon im Herbstschlaf, aber eine geöffnete Taverne hätten wir hier auch gefunden.
Nordöstlich des Ortes steigt ein hoher Hügel (Profitis Ilias, das hatten wir auf Chios jetzt noch nicht) aus, hier gibt es Ausgrabungen, die man besichtigen kann – einen Tempel aus dem siebten vorchristlichen Jahrhundert. Wir sind aber zu faul um da jetzt hinaufzusteigen – ist vermutlich eh zu.
Die Paralia ist nur kurz, mit einem verfallenden Bootsanleger. Kein einziges Boot ist im Wasser - die Brandung schlägt heute direkt in die Bucht, hat sogar große Steine auf die Straße geworfen.
Der Lavastrand „Mavra Volia“ (schwarze Kugeln) von Emborios liegt hinter einem grün-schwarzen Felsenkap, in fünf Minuten zu Fuß vom Ort zu erreichen. Da gibt es eine hübsche, gepflasterte und tamariskenbeschattete Strandpromenade und wunderschöne graue Kiesel am Strand. Nicht bequem, aber wirklich stylish. Und es hat sogar Badegäste. Wir gehen um das Felsenkap zum nächsten Strand, der ist genau so schön. Hier beginnt eine Wanderung im Rother-Wanderführer „Lesbos, Chios“, die ich ins Auge gefasst hatte: Wanderung 33, eine rote Wanderung, also mittelschwer, 300 Höhenmeter, auf das Kap Kefalia. Ja, sieht jetzt nicht so aus als ob wir das unbedingt machen müssten. Heute sowieso nicht mehr, und ob später? Eher nicht…. Es lockt so vieles andere auf Chios.
So lassen wir uns lieber von den glänzenden Kieseln beeindrucken, von der brüllenden Brandung, den schwarzen Bergrückensilhouetten, der klaren Luft, der weiten Sicht, den steilen geschichteten Felsen, von der Stimmung. Hat was.
Auf der Rückfahrt nach Mesta zweigen wir in Olympi noch zur Höhle von Sykia (auch Olympi-Höhle) ab. Die Straße ist gut ausgebaut, schlängelt sich hinab Richtung Küste. Ein flaches Gebäude mit großem Parkplatz davor ist der Höhleneingang (im Inneren des Gebäudes gibt es eine breite Rampe in die Tiefe, rollstuhlgerecht). Niemand ist da. Kein Schild gibt einen Hinweis auf Öffnungs- oder Schließzeiten. Klar, es ist inzwischen halb sechs, und es war optimistisch anzunehmen, dass die Auskunft aus dem MM-Reiseführer „Juni bis Oktober von 10 bis 20 Uhr geöffnet“ sich vor Ort bestätigen würde. Mir scheint eher, dass die Höhle in Krisenzeiten schon im Oktober geschlossen hat – oder noch früher. Heute ist der erste Oktober. Man kann nicht immer Glück haben.
Wir fahren zurück nach Mesta, und dort mache ich einen Fehler: Weil auf dem Platz an der Bushaltestelle kein Parkplatz frei ist, und ich das Auto nicht – wie alle anderen – ins Parkverbot stellen möchte, fahre ich einfach auf die schmale Straße, die den Ort umfährt und die ich schon vom Gepäck ausladen her kenne. Die führt zwischen hohen Mauern durch, und wird immer schmaler. Eine Einbahnstraße ist es außerdem, aber wenden kann man hier sowieso nicht. Ich bin froh, dass ich nur ein schmales Auto habe.
An der nächste Ortsecke zweigen zwei Wege rechts und geradeaus ab, aber das scheinen Sackgassen zu sein, die allenfalls auf Felder führen. Die Hauptgasse geht nach links, und sieht verdammt schmal aus. Ich frage einen Mann, der in einer Einfahrt werkelt, ob ich da links mit dem Auto durchpasse – sonst würde ich wenden (was schwer genug sein dürfte auf dem engen Platz) und gegen die Einbahnstraße zurück. Wenn ich schön langsam fahre, meint er, müsste es klappen. Ich klappe die Spiegel ein und schleiche durch den schmalen Weg – will ja keine Kratzer ans Auto machen. Mit einem breiteren Auto hätte ich keine Chance, aber ich schaffe die Engstellen, und kurz darauf wird der Weg Gott sei Dank breiter. Noch eine Runde um den Ort – und Parkplatz haben wir immer noch keinen, ich bin dafür aber schweißgebadet. Dann halt doch ins Parkverbot. Ein Strafzettel in Griechenland, das wäre eine Premiere.
Am Abend sind wir wieder im „O Meséonas“. Der Sohn der Wirtin, knapp zehn Jahre als, sitzt im Rollstuhl. Er fegt damit über den Platz, spielt mit gleichalterigen fahrradfahrenden Jungs. Hier ist die Welt noch in Ordnung, denke ich. Ein Trugschluss, wie ich zuhause diesem Film entnehmen werde: http://www.youtube.com/watch?v=xIHEVHWMkms Und mir die Journalistin Caroline Wenzel mitteilen wird: nur die Kinder der Albaner spielen mit Simos, Chrissi Avgi hat bei den jungen Männer von Mesta Zulauf, und inzwischen (der Film ist ein gutes Jahr alt) wurde das Taxi nach Chios-Stadt für Simos eingespart.
Wie oberflächliche Eindrücke, die man als Tourist hat, doch täuschen können….
Mit Despina kommen wir auch an diesem Abend nicht ins Gespräch, sie diskutiert mit anderen Gästen, das dauert länger. Eine selbstbewusste streitbare Frau, diese Wirtin. Und das Essen – heute Gemüsesuppe, Spetsofai und Tomatetokeftedes – ist wieder so lecker. Wir müssen auch mal in das andere Lokal (ich hab schon immer ein schlechtes Gewissen wenn ich dort vorbeilaufe, was ich wegen der Nähe zu unserer Wohnung oft tue), aber so wird das schwer wenn es hier so gut schmeckt.
Wenn das Wetter mitmachen wollen wir morgen ein wenig wandern, nach Olymbi.