Wir haben versucht früh aufzustehen, aber es ist trotzdem halb elf als wir aufbrechen. Psara entschleunigt.
Es gibt keine Busse und Taxis auf Psara - für die paar Kilometer Straße lohnt das nicht. Wir haben beschlossen, zu Fuß auf der Straße Richtung Kloster aufzubrechen und zu hoffen, dass ein Autofahrer ein Einsehen hat und uns (wenigstens) ein Stück mitnimmt. Da sind Griechen immer sehr hilfsbereit – Fußgänger passen nicht in ihr Weltbild :-). Das Hauptproblem dabei: es muss überhaupt erst mal ein Auto kommen.
Wir kürzen über den Sattel am Windmühlenhügel ab und erreichen die Straße bei den Windrädern. Als erstes Auto nähert sich ein SUV, in dem nur ein Mann sitzt. Er hält an. Wo wir hinwollten?- Zum Kloster. - Das sei aber geschlossen. - Ja, das wüssten wir. – Weit sei es auch! – Ja, kein Problem. Er zeigt guten Willen, aber leider ist das Auto vollgepackt mit Sachen, und auf dem Beifahrersitz steht eine Palette mit sechs vollen Frappébechern. Wir bedanken uns und schicken ihn weiter. Es wird hoffentlich wieder ein Auto kommen.
Den nächsten Wagen wenig später überhören wir wegen der schwirrenden Windräder, und er fährt einfach vorbei. Sah auch voll aus. Dann kommt noch ein Moped, und das war’s an Verkehr.
Wir marschieren tapfer weiter, die Straße geht noch eben unweit des Meeres, es ist ziemlich windig heute und so kommen wir nicht in Schwitzen.
Nach einer Stunde kurz vor der Abzweigung zur der archäologischen Ausgrabungsstätte Archontiki (Reste einer mykenischen Siedlung - mit Sicherheit geschlossen) fängt der Weg an anzusteigen.
Ein Auto kommt uns entgegen, ein Mercedes-SUV mit getönten Scheiben, eine Frau am Steuer. Sie fahren vorbei, halten hinter uns an, schauen nach uns. Fahren dann weiter. Und kommen nach zwei Minuten zurück. Wieder das Frage- und Antwort-Spiel: das Kloster sei aber weit weg, und zu. Ja, das würde uns nichts ausmachen. Wir sollen einsteigen – sie würde uns hinfahren. Super! Als ich die hintere Türe öffne merke ich: das Auto ist mit Frauen mehrerer Generationen und einem Kind vollbesetzt, was wegen der getönten Scheiben von außen nicht zu sehen war. Ich will schon abwinken, aber die Fahrerin organisiert die Mitfahrerinnen um und schafft Platz, wir können einsteigen. Und dann fahren wir zum Kloster.
Während der Fahrt werden wir minütlich dankbarer für die nette Fahrerin, denn die Straße steigt mehr und mehr an, windet sich in Serpentinen entlang des Profitis Ilias, die Landschaft wird felsiger, ausgesetzter. Der Weg zieht sich. Da wären wir – mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass wir ja auch zu Fuß wieder zurück müssen – nicht heraufgekommen und hätten irgendwann abgebrochen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass noch eine Auto gekommen wäre, geht gegen null – nach der dünnen Streusiedlung Xerokambos gibt es keine Häuser mehr.
Zahlreiche Ziegen sind nun auf der Straße, der Blick wird nach Norden Richtung Lesbos frei. Die Fahrerin (Vangelia wenn ich mich richtig erinnere, oder war es Vassiliki?) erzählt, dass das Kloster am Sonntagsvormittag immer geöffnet hätte - wenn wir das gestern schon gewusst hätten. Es wäre nicht mehr bewirtschaftet, aber im Sommer gäbe es ein großes Panigiri, und da kämen die Leute von nah und fern, auch zu Fuß (die Armen!). Und dann sehen wir den großen Bau des Wehrklosters auf einem Felsenplateau vor uns liegen.
Die Fahrerin lässt uns ungerne hier zurück – wir müssen ihr mehrmals versichern, dass es uns nicht nur nichts ausmacht zu Fuß zurückzuwandern, ja dass wir das sogar gerne täten. Die Größe unseres Dankes können wir gar nicht ausdrücken. Und so entschwindet das Auto und lässt uns in der steinernen Einsamkeit alleine zurück.
Nein, ganz einsam sind wir nicht: eine Schar zotteliger Ziegen mit eindrucksvollen Hörnern mustert uns abschätzig. Hält aber dann doch lieber Abstand. Die hohe Klostermauer wirkt so abweisend, nur das Kirchendach guckt darüber hinaus. So machen wir uns an die Umrundung – vielleicht gibt es irgendwo einen geöffneten Hintereingang. Aber natürlich nicht. Durch einen als Ziegenstall gebrauchten Hof gelangen wir aber hinter das Kloster, wo es abseits eine sehr nette unverputzte Kapelle mit Kuppeldach gibt, und man von etwas erhöhter Position einen Blick auf das Kirchengebäude werfen kann. Das hell gestrichene wellige Dach, überragt von der blau-silbern glänzenden Kirchenkuppel und einer weiteren niedrigeren Kuppel sieht aus als hätte Hundertwasser es entworfen.
Wann das Kloster Kimisi tis Theotokou entstand ist unklar, es soll aber von Mönchen vom Berg Athos gegründet worden sein. Der aktuelle Bau stammt aus dem 18 Jahrhundert. Wegen seiner exponierten Lage – man sieht es gut vom Schiff aus wenn man die Lage kennt – blieb es unverputzt, und war wegen der hohen Mauern sicher nur schwer einzunehmen. Während des Freiheitskampfes der Griechen war es - wie viele Klöster - eine Operationsbasis der Griechen. Und es gab eine kostbare Ikone von El Greco (gemalt um 1569) dort, die während des Freiheitkampfes nach Syros gebracht wurde, wo sie heute noch ist – in der Kirche Kimisi Theotokou ton Psarion in Ermoupoli (direkt hinter dem Fähranlieger).
Bis 1975 soll das Kloster noch bewohnt gewesen sein.
Wir sehen hinüber zur Nordwestküste von Chios mit dem Gipfelmassiv des Pelineo. Ob das im Norden Lesbos ist, oder nur Wolken? Schwer zu sagen. Frachtschiffe passieren. Und da sind auch wieder zwei Eleonorenfalken, von einigen Krähen um den Profitis Ilias gejagt. Dessen Gipfel sieht man von hier aus übrigens nicht, er liegt hinter einem Vorgipfel, und es gibt auch keinen direkten Weg hinauf. Sonst hätten wir uns die 160, 170 Meter Aufstieg vielleicht noch gegönnt.
Nach einer Rast auf dem Platz vor dem Kloster machen wir uns dann auf den Rückweg auf der Straße. Eine Ziegenfamilie begleitet uns unterhalb der Straße, wo ein Trampelpfad einen Wanderweg vortäuscht. Der aber sowieso ins trocken-graue Nirwana führen würden. Keine Versuchung.
Nach eineinhalb Kilometern zweigt links die Piste zum Profitis Ilias ab. Hier auf einem Sattel ist in der Terrain-Karte ein Monopati eingezeichnet, das ein gutes Stück der Straße abkürzt. Bei einem Stall vorbei ist der Weg gut erkennbar, aber er endet kurz darauf – das ist hier vielleicht nur als Ausguck für Jäger genutzt. Und obwohl man das Gelände von hier aus sehr gut überblicken kann – die Aussicht reicht über die Insel bis zum Mavri Rachi – lässt sich der weitere Verlauf des Weges nicht erkennen. Da sind wir gebrannte Kinder und kehren zur Schonung unserer Waden lieber wieder auf die Straße zurück, auch wenn die den Weg serpentinenschlängelnd deutlich verlängert.
In der nächsten Biegung haben wir einen Blick auf die Streusiedlung am Rand der Ebene Xerokambos – mehr Kapellen als Häuser. Zwei Kurven später steht am Wegrand die hübsche, aber untypische Kapelle Analipsi – mit ihren kleinen Anbau sieht sie mehr wie ein Häuschen als wie eine Kirche aus. Auch sie ist abgeschlossen, der Schlüssel nicht auffindbar. Auf den gemauerten Bänken lässt es sich gut pausieren.
Die Straße geht nun nach Süden, eine Piste zweigt nach Ftelio ab, ein paar Höfe in einem – aus der Ferne – für psariotische Verhältnisse richtig grünen Tal. Dann macht die Straße eine Kurve um eine Kapelle (Agios Vassilios) samt Denkmal: für die Helden von Ftelio im Krieg gegen die Türken 1824.
Schließlich erreichen wir die Abzweigung zum nördlichen Lakka-Strand, und obwohl wir wegen des starken Windes kaum geschwitzt haben, will ich baden gehen. Die Brandung ist noch stärker als vorgestern, wir gehen den schönen Strand entlang bis zu den Windrädern, gelegentlich nasse Füße holend. Fast ein Kilometer lang erstreckt sich der Lakka-Strand. Da müsste sich doch selbst in der Hochsaison ein ruhiger Badeplatz finden lassen. Jetzt sowieso – wir sind wieder die einzigen Badegäste.
Gegen halb sechs Uhr sind wir dann wieder in der Chora zurück – etwa 13 Kilometer sind wir gewandert, alles auf der Straße. Da spürt man die Beine, Beton bzw. Asphalt ist nicht unser präferierter Wegbelag. Und MartinPuc, der 2004 schreibt, dass man die Insel „wohl in einem halben Tag gut umrunden könne“ (er hat es aber selbst nicht getan) hat die Ausmaße deutlich unterschätzt. Denn da wo die Sicht aufhört, geht die Insel noch ein ganzes Stück weiter. (Und übrigens: nein, eine Ringstraße um Psara gibt es nicht. Vielleicht ein Monopati, aber ohne Gewähr. In der Karte ist keines eingezeichnet.)
Laut Fahrplan soll um Viertel nach sechs Uhr am Abend (für Deutsche, für Griechen ist das noch Nachmittag) die Fähre „Psara Glory“ von Chios kommend eintreffen. Das möchte ich mir doch mal ansehen. Aber ich bin viel zu früh am Hafen: das Schiff hat Verspätung.
Eine halbe Stunde muss ich im Windschatten des Denkmales von Dimitrios Papanikolis vor dem saukalten Wind geschützt auf den „Ruhm von Psara“ warten bis der überhaupt mal um das Südostkap biegt und ins Blickfeld kommt. Und bis das Schiff dann endlich anlegt vergeht noch eine Viertelstunde.
Erstaunlich viele Einheimische mit ihren PKW haben sich eingefunden – die Fähre bleibt ja über Nacht hier. Aber fast alle haben etwas abzuholen, und ein paar Menschen gehen auch von Bord. Zum Beispiel eine Frau mit einem Pointer-Jagdhund an der Leine. Das Tier ist so verängstigt, dass seine Rute zwischen den Hinterbeinen eingeklemmt einen devoten Bogen nach vorne bildet. Der dazugehörige Mann fährt mit dem Auto samt Anhänger und Hundehütte darauf von der Fähre - sie werden die Wohnung im Untergeschoss unseres Hauses beziehen und ein paar Tage Jagdurlaub machen. Nicht dass ich sehen würde dass er jemals eine Beute heimbringt, aber das T-Shirt vom Jagdclub „Artemis“ auf Chios (passenderweise in knallorange) lässt auf ernsthaftes Vorhaben (oder Imponiergehabe?) schließen. Und der arme Hund wird uns morgendlich die Ohren volljaulen – seine Hütte hat das Herrchen gegenüber neben der Doppelkapelle platziert.
Beim Ticketbüro an der Paralia – neben Bäckerei und den Minimärkten der einzige Laden, in dem man etwas käuflich erwerben kann – hängt ein Zettel mit den Fährzeiten. Ganz aktuell hat er die defekte „Taxiarchis“ nicht mehr gelistet, dafür die „Aqua Maria“. Und mit der könnte ich doch tatsächlich – was gtp nie gemeldet hatte, und auf openseas wohl auch erst sehr kurz vorher kam - einen „Tagesausflug“ nach Agios Efstratios machen: heute Nacht um 2.50 Uhr Abfahrt, Ankunft auf Ai Strati um 7.50 Uhr. Die Rückfahrt in der Nacht auf Mittwoch um ein Uhr, und um sechs Uhr am Morgen wäre ich wieder auf Psara. Immerhin siebzehn Stunden auf Ai Strati – verlockend…. Wenn ich alleine unterwegs wäre, würde ich der Versuchung vielleicht nachgeben. Aber so bin ich doch nicht sammelwütig genug. Ich komme da schon noch hin, und genieße jetzt lieber entspannt die Zeit auf Psara.
Vom Balkon betrachten wir den Sonnenuntergang, der auch heute wieder eine Eins mit Sternchen verdient hat. Genauso wie die köstlichen Juvarlakia (Fleischklößchen in Zitronensauce) im „Iliovasilema“: das haben wir eeewig lange nicht mehr gehabt. Nebenan sitzt das Jägerehepaar mit einem weiteren Paar, das auch bei uns im Haus wohnt. Bis auf eine Wohnung sind nun alle Zimmer des „Kato Gialos“ belegt, eines davon von einem Dauermieter.
Die Essensreste packt der Jäger ein – er entschuldigt sich bei uns, dass sie für das Hundchen (Skylaki) seien. Undenkbar in Griechenland, dass man das Zuviel des guten Essen im Restaurant für sich selbst mitnimmt…. Auch in der Krise. Aber Krise, welche Krise?
Wir bleiben auf alle Fälle noch ein paar Tage...