In Chora und Therma

So, und am Dienstag geht es nun endlich in die Chora. Wird ja auch Zeit. Das Wetter ist weiter sonnig, wenn auch nicht besonders warm. Am Weg tanken wir nochmal für zehn Euro, ehe unser Citroën die dreihundert Höhenmeter nach Chora erklimmt. Das heißt: es sind nur zweihundertzwanzig Meter bis zum Parkplatz im unteren Ortsteil, von dem aus der Ort sich entlang der Hänge wie in einer Schüssel emporzieht. Das sieht gut aus, und steil. Theo verweigert denn auch prompt - das wäre kein Ort für ihn. Er werde sich hier unten in einem Kafenio niederlassen, während ich eilig bergwärts strebe. Zuvor haben ich aber das Denkmal einer modernen Nike betrachtet, die in merkwürdige verzwungener Haltung oben auf einem Steinsockel posiert. Der Steinsockel enthält ein Relief, das eine trauernden Mutter mit Kind an der Leiche eines Mannes darstellt und an ein Massaker am 1. September 1821 erinnert, als die Osmanen als Vergeltungsmaßnahme gegen am Aufstand auf der Peloponnes beteiligte Samothraker fast die ganze Inselbevölkerung hinmetzelten oder versklavten. Mal wieder eine moderne Pieta voller Pathos. Gruselig, der Anlass, und das Relief.

 

Schnell geht es die Stufen hinauf, die Burgruine, die am oberen Ortsrand auf einem Steilfelsen thront, ist mein Ziel. Das Tor ist geöffnet, der Eintritt frei. Trotzdem sitzt ein junger Mann im Pförtnerhäuschen, er reicht mir ein zweisprachiges Faltblatt (Griechisch und Englisch) über das Kastro, ehe er sich wieder seinem Telefonat zuwendet. Die Burg stammt aus spätbyzantinischer Zeit, 1431 bis 1433,  und wurde von dem Genueser Palamedes Gatilussio erbaut, hatte später wechselnde Besitzer, von den Osmanen (mehrfach mit Unterbrechungen) über die Venezianer und sogar eine kurze russische Episode ist zu verzeichnen. Seit 1912 ist Samothraki und damit die Burgruine griechisch. Ein aus der Zeit der Metaxa-Diktatur stammendes Gebäude, das als Polizeistation benutzt wurde, wurde erst 2015 abgerissen. Die Polizeistation befindet sich heute oberhalb von Kamariotissa, wie wir morgen erfahren werden. Viel Infrastruktur ist aus dem Inselhauptort hinab zur bequemeren Küste von Kamariotissa gezogen.

 

Ich streune über das Gelände, betrachte die eindrucksvollem Mauern der wehrhaften Anlage und das in einer Mauer am Tor eingelassenen Relief mit Wappen. Am besten gefällt mir aber die Aussicht über Chora, die von hier aus gesehen wie in einem runden Kessel liegt, vom Meer aus kaum sichtbar. Zum besseren Fotografieren steige ich einmal über ein Geländer auf eine weite Plattform, und werde prompt vom Aufseher zurückgepfiffen. Ja ja, immer diese nervigen Touristen, die sich nicht an die Regeln halten können. Recht hat er. Aber die Absperrungen sind auch mehr als großzügig gesetzt.

 

Von hier oben aus sehe ich auch, dass von Norden her eine Straße in einem weiten Bogen bis zur Burg führt. Da könnte ich ja Theo abholen und herauffahren. Der hat die Straße aber auch schon entdeckt und ist zu Fuß auf ihr unterwegs, wie er mir wenig später per SMS mitteilt. Da bin ich schon weiter im oberen Ortsteil unterwegs, erkunde Winkel und Treppen. Sommerlich vielleicht geöffnete Läden und Galerien sind aber schon geschlossen, etwa das Haus von Maria Ververi-Krause, einer deutsch-griechischen Künstlerin.

 

Von oben her erreiche ich die Hauptkirche Kimisi Theotokou, ein imposantes, unverputztes Gebäude, das sich über der Ortsmitte am Hang befindet. Das seitliche Tor mit dem Eingang über einen kleinen hübschen Garten ist geöffnet und außer der Entschlafung der Muttergottes auch den fünf "neuen" Märtyrern geweiht: Emmanouil, Georgios, Theodoros, noch ein Georgios, und Michail, vier Samothrakern und einem Zyprioten, die 1821 von den Osmanen in die Türkei verschleppt wurden und zum muslimischen Glauben gezwungen werden sollten. Sie weigerten sich und wurden 1835, am 6. April, hingerichtet. Als hochverehrte Inselheilige wird ihr Fest auf Samothraki am Sonntag nach Ostern gefeiert. Ich hatte ihre Ikone in den letzten Tagen schon in anderen Kapellen gesehen, aber erfahre erst jetzt, worum es geht.

 

Die Kirche ist prachtvoll und gepflegt. Als ich sie wieder verlassen will, kommt ein Pappas die Treppe herunter und geht hinein. Er hat mich nicht gesehen und irgendwie fühle ich mich ertappt, weil ich so neugierig und unheilig in der Kirche herumgeguckt habe.

Ich erreiche weiter abwärts das Ortszentrum mit mehreren hübschen Kafenia, durchaus auch besucht und lebendig. Schade, dass Theo nicht da ist, da würde ich jetzt gerne irgendwo einkehren.

 

Eine sanft ansteigende Pflasterstraße führt hindurch, ich folge ihr wieder bergwärts bis fast zur Burg. Irgendwo muss auch ein volkskundliches Museum sein. Ich finde es nicht, vermutlich ist es sowieso geschlossen. Aber einen geöffneten Bäckerladen hat es, neben ein paar kleinen Lädchen mit Schaufenstern voller Niken. Sehr hübsch das Ganze. Vielleicht wäre hier oben schöner Wohnen gewesen, wenn auch nicht ganz einfach im Zugang. Das blaue Guesthouse "Fardi", das ich in Erwägung gezogen hatte, als ich noch dachte, alleine hier zu urlauben, sieht schmuck aus.

 

Die Hauptgasse führt abwärts in einem Bogen zum unteren Ortseingang hinab, wo wir das Auto stehen haben. Mensch, da hätte Theo doch bequem raufgehen können. Schade, dass wir das nicht wussten.

Als ich wieder am Auto bin, hat Theo gerade erst die Burg verlassen. Es wird noch dauern, bis er wieder hier unten ist. Ich bummle im westlichen Ortsteil herum, und bewundere die drei Feuerwehrautos, die nach Größe sortiert am Parkplatz stehen. Die Feuerwehrwache ist am unteren Ende der Hauptgasse und besetzt. Man ist hier sehr aufmerksam.

Schließlich kommt Theo, und entdeckt prompt eine Beule am Auto. Hinten rechts, über dem Scheinwerfer. Nur eine Beule, kein Kratzer. Als hätte jemand sie hineingedrückt. Keine Ahnung, wo die plötzlich hier herkommt, gestern war sie noch nicht da. Heute Nacht beim Parken? Oder jetzt hier? Aber sie ist ja auf der Gehwegseite. Merkwürdig.

Grübelnd fahren wir weiter. Therma ist nun unser Ziel, und so nehmen wir die Straße, die von Chora aus nach Norden führt und bei Paleopoli auf die Küstenstraße trifft. Sieben Kilometer weiter, am kleinen und verlassen wirkenden Hafen von Therma, biegt eine Stichstraße nach rechts ab. Sie endet an einem großen Parkplatz bei den Thermen. So ein heilsames heißes Bad wäre ja nicht schlecht, und im Gegensatz zu vielen Kurbädern, die ich in Griechenland erlebt habe, ist dieses tatsächlich geöffnet. Allerdings nur von 8 bis 11 Uhr, und nach vorheriger Reservierung (und natürlich mit 3G).

 

Gut, dann werde ich eben das Hinterland von Therma erkunden, da gibt es noch ein paar kleinere Wasserfälle: Zuerst hab ich aber Hunger und frage im hübschen und gut besuchten Kafenio "Ta Therma" nach Essbaren. Hätten sie eigentlich nicht, aber einen Teller mit Meze könne er mir richten, meint der freundliche Wirt. Der Teller kommt wenig später, ist eher deftig mit Dosenwurst und Dosenbohnen, aber schmeckt besser als gedacht. Oder ist es schlicht der Hunger? Theo hat Magenprobleme und keinen Appetit. Er wird sie hier in der Gegend aufhalten und zum Hafen hinab spazieren, während ich meinen Weg durch das Labyrinth der waldigen Streusiedlung Therma (auch Loutra) nach Gria Vathra suche. Meine Outdoor-App ist mir dabei ganz nützlich, und die Skizze im MM.

Therma hat kein Ortszentrum und wäre vermutlich häßlich, wenn die nicht Blätter von Eichen und Platanen dem Ganzen einen gnädigen, ja fast schon verwunschen Anstrich geben würden. Hier fühlen sich Aussteiger wohl, und das, was man früher Hippies genannt hätte. Damit sie nicht wild campen, hat man an der Nordküste sogar zwei Campingplätze eingerichtet, die auch Ende September noch geöffnet scheinen. Ob es geholfen hat? Es gibt auch zahlreiche Privatzimmer zu mieten.

Auf alle Fälle ist Therma von einem idyllischen Kurstädtchen so weit entfernt wie die Erde vom Mond, allenfalls eine entspannte Atmosphäre wäre zu konstatieren, auch befeuert durch halluzinogene Substanzen.

 

Der Weg ist weniger weit als gedacht, einmal biege ich falsch ab und muss mich durch den Wald schlagen. Aber es hat überall Waldwege, die allerdings auch mal an Zäunen enden können. Und es hat immer wieder kleine Bachläufe, die den Wald idyllisch durchziehen. Wenn jetzt gleich Rotkäppchen oder der Wolf käme, würde ich mich nicht wundern.

 

Bei einem Pumpenhäuschen treffe ich auf einen Parkplatz und damit wieder auf eine Straße. Auch hier steht ein Campingmobil. Ein Fußweg führt entlang einer betonierten Wasserrinne tiefer in den Wald. Der Platia-Bach ist hier mehr als gezähmt und weist mir den Weg zum Gria Vathra, dem ersten Wasserbecken "Becken der Greisin". Die namensgebende Seniorin soll hier hineingestürzt und ertrunken sein, als sie nach ihre Ziegen suchte. Die Kante des Becken ist auch gelegentlich rutschig. Eine füllige Frau sitzt nixengleich am Rand, die Füße im kalten Wasser. Ich solle vorsichtig sein, sagt sie, aber nach einem Blick auf meine Wanderstiefel schickt sie mich ein Becken weiter: das wäre noch schöner. Hier ist tatsächlich für Samothraki-Verhältnisse richtig was los, denn auch oben auf dem Felsen über dem Becken, in das sich eine kleine Kaskade ergießt, sitzen ein paar junge Leute mit Hund. Scheint ein Platz der Kontemplation zu sein.

An dem ersten Becken vorbei und über einen Felsen erreiche ich direkt das nächste Naturbassin, in das von hinten ein Tälchen mündet. Ob ich hier ein Bad nehme? Das Thermometer zeigt einen Wassertemperatur von 16 Grad, was wärmer ist als gedacht, aber mir zu kalt für ein Ganzkörperbad. Ein Fußbad tut es auch. Während ich da so im Wasser stehe (was doch sonst die Griechen an ihren Stränden gerne machen), kommt aus dem Tälchen ein junger Mann, barfuß. Behände (oder befüßt?) klettert er auf einem schmalen Sims direkt an der begrenzenden Steilwand über dem Bassin zu mir und entschwindet hinter mir. Ich fühle mich alt und ängstlich. Aber das ist auch einfach nicht mein Terrain, und weiter möchte ich auch gar nicht. Ich setze mich hin und lausche dem Rauschen von Bach und Blättern. Erinnert mich an Evia, die Dimosaris-Schlucht.

Auf dem Rückweg biege ich nochmals links ab in ein schattiges Tal mit dem plätscherndem Bach Tsivdogiannis, um mir die Mikres Vathres anzusehen. Der Boden ist mit Laub und Felsbrocken übersät, fast weglos wandere ich am Bach entlang. Schon nach kurzem erreiche ich einen Talschluss, wo der Bach über Felsen rinnt und ein flaches, steiniges Becken füllt, in dem sich Frösche tummeln. Das grüne Blätterdach spiegelt sich in der Wasseroberfläche, wirklich sehr stimmungsvoll. Im Sommer, bei großer Hitze, ist das Ganze vermutlich noch erfrischender.

Um Viertel vor vier bin ich wieder am Auto. Theo ist zum Hafen hinabgewandert, ich soll ihn dort abholen. Zuvor möchte ich aber noch das Open-Air-Spa ansehen, das oberhalb des Kurhauses liegt. Eine Betonpiste führt steil rechts am Badehaus vorbei aufwärts, in fünf Minuten bin ich oben, wo von einer Spitzkehre (weiter käme man zu einem Weg, der auf den Fengari führt) ein Pflasterweg abwärts führt. An dessen Ende liegt der improvisiert aussehende, zementierte Pool, vielleicht drei mal sechs Meter groß. Ein Schlauch leitet schwefelhaltiges, warmes Wasser hinein. Man solle hier nur drin baden, wenn man wirklich krank sei, sagen die Leute, sonst würde man krank. Ok, meine Füße werde ich riskieren, so ein Hallux ist ja schon ein Leiden, und vielleicht gibt es eine Spontanheilung. Das Wasser ist angenehm warm, ein leichter Hauch von Schwefel liegt in der Luft.

 Und von der Pool-Terrasse hat man einen wunderbaren Blick über die Bäume zur Küste, zum kleinen Hafen von Therma. Wo Theo auf mich wartet. Nein, er ist inzwischen an der Hauptstraße nach Osten gewandert, bis zum ersten Campingplatz, wo ich ihn kurz darauf aufsammle. Nun fahren wir noch ein Stück weiter und biegen dann rechts auf eine Schotterpiste ins Inselinnere ab. In zwei Kilometern führt die konstant schlechter werdende Piste im Zickzack durch die Botanik, und ich hoffe, dass sich dies auch lohnt. Unser Ziel ist die Ruine des Christus-Klosters, das im 14. Jahrhundert erbaut wurde. Das Kloster gehörte zunächst der Gemeinde Samothrki und wurde ab dem 18. Jahrhundert eine Außenstelle (Metochí) des Athos-Klosters Iviron, ehe es im 19. Jahrhundert verlassen wurde.

 

Das letzte Straßenstück und eine Wendeplatte sind mit großen Löchern übersät, wir quälen den Citroën über die Buckelpiste und stellen den Wagen etwas unterhalb ab. Die Ruine befindet sich in einer Bauminsel und ist mit massiven Pfählen abgesperrt. Nur schmale Tiere können hier durch. Theoretisch, denn an einer Stelle sind die Pfähle auseinandergedrückt und ermöglicht auch mir den Zugang, denn das Tor ist verschlossen.

 

Liebevoll hat man die eher unscheinbare Klosterruine restauriert und das fehlenden Kirchendach durch ein drüber befestigtes Schutzdach ersetzt. Die Kapelle ist zwölf Meter lang und etwas über vier Meter breit. Eine größere und zwei kleinen Apsiden schließen sie nach Osten hin ab. Hübsch.

Von den Außenanlagen ist noch eine Zisterne erhalten, mit gefallen aber vor allem die Bäume, von denen einer einen 90-Grad-Knick macht und unten mit Steinplatten abgestützt wurde. Schön, dass man die Kapelle nicht ganz dem Verfall überlassen hat.

Von hier aus könnte man auch zu weiteren Vathres, denen von Grigoriadi, weiterwandern. Aber ich hab inzwischen genug Vathres gesehen, und es ist auch schon spät. Zeit für die Rückfahrt.

Weil Theos Magenbeschwerden sich auch am Abend nicht wesentlich gebessert haben und er lieber nur Tee zu sich nehmen möchte, gehe ich später alleine essen. Ins "Synantisi", wo ich mir einen Kartoffelsalat und Bujurti bestelle. Beides ausgezeichnet, und für zehn Euro inklusive Wein wirklich preiswert.

 

Dann hoffen wir mal, dass Theos Magen sich wieder beruhigt, und wir morgen einen letzten ganzen Tag auf Samothraki genießen können.