Kamariotissa und zum Kap Akrotiri

Von Möwen begleitet verlassen wir den Hafen von Alexandroupoli. Wir genießen die Überfahrt auf dem Außendeck, wo die Maskenpflicht nicht so streng gehandhabt wird. Aerosole haben bei dem Fahrtwind eh keine Chance.

 

Zweieinhalb Stunden dauert die Überfahrt, unsere Zielinsel rückt näher. Der Kamm des mächtige Saos-Gebirge mit dem 1.611 Meter hohen Gipfel des Fengari beeindruckt, um so näher wir kommen. 1.611 Meter, das ist Rekord auf den Ägäisinseln (von Kreta und Euböa mal abgesehen, und der Athos ist nur eine Halbinsel), und beachtlich für eine relativ kleine Insel von 20 mal zwölf Kilometern maximaler Länge und Breite. 1.611 Meter - das übersteigt andererseits auch meine wanderischen Fähigkeiten, da es keine Möglichkeit gibt, den Aufstieg mit einer motorisierten Aufstiegshilfe entscheidend zu verkürzen - das steile Gebirge ist nicht mit Straßen erschlossen. Da man den Aufstieg sowieso auch nicht alleine unternehmen sollte, hab ich mir den Gipfel abgeschminkt. Und auch sonst scheinen nur wenige und kurze leichte oder mittelschwere Wanderungen möglich. Mal sehen, was sich vor Ort ergibt.

 

Der Hafenort Kamariotissa liegt an der Nordwestküste, nur zwei Kilometer von westlichsten Inselzipfel am Kap Akrotiri entfernt. Etwa tausend der 2.800 Einwohner Samothrakis wohnen hier, und damit ist der Ort das eigentliche Zentrum der Insel, auch wenn die vier Kilometer entfernt Chora mit offiziell 650 Bewohnern der Inselhauptort ist. Bäcker, Läden, Tavernen, Autoverleiher und (nachsaisonal spärlichen) Busverbindungen - das bietet Kamariotissa und so haben wir uns für ein Quartier hier entschieden, auch wenn der Ort, wie wir schnell merken werden, optisch und historisch eher wenig zu bieten hat.

Kamariotissa ist heute pünktlich um halb sechs Endstation der Fähre "Adamantios Korais", die gut belegt war und postwendend nach Alexandroupoli zurückfahren wird. Auch einige Soldaten gehen von Bord, während überraschend viele Leute auf die Rückfahrt zum Festland warten. Wir orientieren uns Richtung Norden, denn "unsere" "Villa Maria" liegt etwa 500 Meter nördlich des Fähranlegers, nur durch eine wenig befahrene Straße vom Steinstrand getrennt.

Ich habe direkt telefonisch bei Maria gebucht, die auch etwas Deutsch spricht. Es gibt übrigens eine sehr große samothrakische Kolonie in Stuttgart, genauer: in Bad Cannstatt, wo es auch mal ein Kafenio namens "Samothraki" gab (oder noch gibt?), und ein Kulturverein die Inseltänze bei Tanzveranstaltungen hoch hält. Oder hochhielt, vor Corona.

40 Euro bezahlen wir je für ein geräumiges Zimmer mit Kochecke im Erdgeschoss des Hauses und mit einem wunderbaren Sitzplatz unter einer schattiggrünen Pergola. Zum Empfang stellt uns Marias Mann erst mal eine Limo und löffelsüße Bergamotte hin, später gefolgt von einer Obstschale mit Trauben und Pflaumen. Danke, das wird unser Frühstück erweitern!

 

Sechs Nächte werden wir bleiben, notgedrungen recht lange, denn die Fährverbindungen nach Limnos sind limitiert. Aber wir wollen nicht meckern, immerhin gibt es diese Verbindung. Nur geht der lange Aufenthalt auf Samothraki zu Lasten von Limnos, das deutlich größer ist und mir vielseitiger erscheint. Mal sehen, ob es uns auf Samothraki langweilig werden wird.

 

Busse fahre jetzt in der späten Nachsaison am Wochenende nicht mehr, und unter der Woche nur nach Chora (sechsmal täglich), Alonia und Profitis Ilias (vier- bis fünfmal täglich) und Paläopoli, Therma und Ano Meria (dreimal), wobei die erste Verbindung jeweils sehr früh am Morgen ist. Nichts für langschlafende Touristen wie uns. Zum Glück hat es mehrere Autoverleiher am Hafen, von denen einer, Kyrkos, auch gerne meine Fragen beantwortet. Lange Jahre ging das Gerücht, dass Mietautos auf Samothraki rar und teuer wären. Dem ist nicht (mehr?) so, denn einen Kleinwagen bekommen wir hier schon ab 25 Euro am Tag. Im Sommer und Herbst 2021 explodierten in vielen griechischen Feriendestinationen die Mietwagenpreise. Aber Samothraki gehört da offenbar nicht dazu, die Feriensaison scheint an der Nordägäis auch schon weitgehend beendet: heute ist der 24. September und die Bootstouren entlang der Südküste wurden leider nur bis 20. September angeboten, wie ich vorab schon erfahren habe. Sehr schade

Aber den Mietwagen benötigen wir frühestens übermorgen, denn morgen wollen wir zu Fuß hier in der Gegend unterwegs sein.

Ein erster Orts-Check ergibt: es gibt einen größeren Supermarkt nur wenig entfernt, wo wir uns gleich mit dem Notwendigsten für die nächsten Tage eindecken. Außerdem sehen einige Lokale entlang der Paralia um den langgestreckten Hafen versammelt: Cafés, Bars und Psistaries, außerdem eine Pizzeria in Nachbarschaft zur Villa Maria. Mal sehen, wie so die Qualität ist.

 

Nach dem beeindruckenden Sonnenuntergang, den wir mit Blick auf den Berg Athos links und Thassos rechts von unserer Terrasse aus genießen können, wählen wir zum Abendessen die Taverne "Synantisi" am Hafen aus. Der Bougiourti ist sehr gut, die gefüllten und frittierten Zucchiniblüten und Theos Gavros sind eher Durchschnitt. Aber am Hafen ist einiges an Leben, und nicht nur, weil die Autos einen merkwürdigen Kreisverkehr durch die Parkplätze bei dem Mini-Leuchtturm vorbei fahren müssen, obwohl die Uferstraße eigentlich breit genug scheint. Ausländisch aussehende Touristen sind hier übrigen in der Minderheit, allenfalls fallen gelegentlich Campingmobile mit bulgarischen oder deutschen Kennzeichen auf. Und junge Menschen im Hippie-Look, das sind aber Griechen. Deren "Nester" liegen aber außerhalb von Kamariotissa, wie wir die nächsten Tage erfahren werden.

 

*

 

Noch vor dem Frühstück gehen ich am Strand vor der Haustüre baden. Das Meer ist 22 Grad kühl, der Steinstrand empfiehlt Badeschuhe. Der Himmel ist wolkenfrei, es verspricht ein schöner Tag zu werden. Wir gönnen uns ein üppiges Frühstück unter der Pergola vor meinem Zimmer. Theos Zimmer liegt direkt neben der Wohnung unseren Gastgeber, die oft, gerne und lange am Tisch vor ihrer Türe sitzen und dabei palavernd wechselnde Nachbar- und Bekanntschaft empfangen. Da halten wir besser Abstand, zumal die Wirtin nicht geimpft und recht ängstlich ist. Offenbar hat sie nicht verstanden, dass auch Freuden und Einheimische das Virus übertragen können ..... Unser Wirt steuert vier Scheiben Rührkuchen zu unserem Frühstück bei. Da Theo seine Portion Kuchen nicht isst, und der Gastgeber auch in den nächsten Tagen jeweils vier Scheiben Kuchen bringt, habe ich einen schnell wachsenden Kuchenberg in der Küche. Wir werden irgendwann versuchen, Ziegen damit eine Freude zu machen. Was sich als schwierig erweisen wird, da die Vierbeiner misstrauisch türmen, wenn wir mit Kuchen locken, oder ihn ihnen schließlich frustriert hinterher werfen.

 

Wir lassen es heute langsam angehen und spazieren um halb elf los Richtung Kap Akrotiri. Das ist eine flache Strecke auf einer kaum befahrenen Straße und auch von Theo zu bewältigen.

 

Am Hafen hängt ein großes Transparent, das sich gegen Windräder auf den Bergen Samothrakis ausspricht. Es gibt gigantischen Pläne der Mitsotakis-Regierung, die ägäischen Inseln mit Massen von Windrädern zu überziehen. 70 Rotoren sind etwa auf Amorgos geplant, 30 auf Levitha, und nur zwei zu nennen. Ohne Rücksicht auf Natur und ausgewiesene Naturschutzgebiete (Natura 2000), auf die Menschen, die vom Tourismus leben, und auf die geologische Gegebenheiten. Und den Strombedarf vor Ort, der mit viel weniger Rädern zu decken wäre. Von den Inseln der Ägäis sollen nur Santorin und Mykonos keine Rotoren bekommen - dort ist die Tourismuslobby stärker. Ja, ich weiß, dass alternative Energien notwendig sind, und dass Windräder doch ästhetisch ganz hübsch sind. Weniger hübsch sind aber die Pisten, die zur Erbauung und Wartung zu jedem einzelnen Rotor gebaut werden müssen, durch bergiges Gelände mit sehr langen und schweren Transportern. Ich habe das in Südeuböa gesehen, wo aber die Besiedelung sehr dünn und die Berge nicht so steil sind. Die Zerstörungen sind immens und meist irreversibel. Dazu noch Unterwasserkabel, um den erzeugten Strom zum Festland zu bringen .... Und ob ausgediente oder defekte Rotoren jemals abgebaut werden? Man darf das bezweifeln, aber hier auf Samothraki ist das tatsächlich geschehen: auf dem Weg zum Kap Akrotiri sind in meiner Landkarte von Terrain vier Windräder eingezeichnet, die dort nicht mehr stehen. Warum sie abgebaut wurden? Keine Ahnung. Stattdessen sind aber nun 39 Windturbinen auf Samothraki geplant. 39! Zwei Windparks (schönes euphemistisches Wort), einer mit drei, einer mit 36 Rädern. Kein Wunder laufen die Samothraker dagegen Sturm. Man kann ihnen (und den Insulaner der restlichen Ägäis) nur die Daumen drücken, dass sie sich durchsetzen können.

Upps, wieder ein Exkurs, der so nicht geplant war. Aber ich kriege schon erhöhten Puls, wenn ich daran denke. Sorry. Zurück zum Urlaub mit angenehmen Themen.

Gerade kommt die "Adamantios Korais" von Alexandroupoli. Heute, Samstag, wird sie weiter nach Limnos fahren. Dreimal die Woche wird diese Route bedient, das nächste Mal wieder am Montag und dann am Donnerstag, dann hoffentlich mit uns. Außer am Montag bleibt sie immer über Nacht in Limnos und fährt erst am nächsten Tag zurück.

 

Die Straße führt entlang des steinigen Strandes nach Westen. Vorne auf einer Anhöhe des Ufers steht eine hübsche Kapelle, Agios Nikolaos geweiht. Beim Näherkommen entpuppt sich die Anlage als etwas vernachlässigt, ein provisorisches Pavillon aus Brettern neben der geschlossenen Kapelle passt irgendwie zu der vorbeiführende Stromleitung mit den traurige herunterhängenden Kabeln. Das nennt man dann wohl beschönigend "herben Charme", und wird uns auf Samothraki immer mal wieder begegnen.

Westlich der Kapelle erstreckt sich nun links der Straße eine weite und flache Pfütze, mit Plastikmüll übersät und begrenzt von einigen trostlosen Steinbaracken. Soll das die Lagune von Agios Andreas sein, ein Vogelparadies? Nein, zum Glück nicht, denn die Lagune beginnt erst hinter dem nächsten Wall und zieht sich südlich der grauen Landzunge, die in einem weiten Bogen spitz zum Kap ausläuft. Die "Adamantios Korais" setzt bei ihrer Weiterfahrt nach Limnos einen orangenen Farbtupfer im Steingrau. Und eine Polizistin braust auf ihrem Motorrad vorbei, um irgendwo dort nach dem Rechten zu gucken. Noch löst der Anblick von Polizei bei mir keinen erhöhten Pulsschlag aus. Auch das wird sich in diesem Urlaub noch ändern. Ein Schnellboot der Küstenwache kreuzt den Kurs der Fähre. Alle sehr wachsam hier.

 

Nur fünf, sechs Meter erhebt sich das Kap Akrotiri über Meereshöhe. Ein filigraner Mast mit Leuchtfeuer markiert nicht ganz das Ende, ein rostiges Büdchen davor ist schon fast wieder Kunst. Möwen tummeln sich am südlichen, eine griechische Parea hockt am nördlichen Ufer, blickt aufs Meer und picknickt. Natürlich sind sie mit dem Auto gekommen. Ein Samstagsausflug ans Meer. Man könnte hier vielleicht Baden, aber so richtig einladend ist der Strand mit den flachen grauen Kieseln nicht. Und auch nicht das kühle Wetter. Ich verzichte auf das Bad, war ja heute schon im Meer.

Ein Van mit bulgarischem Kennzeichen nähert sich, zwei Männer mit langen Taschen entsteigen ihm. Jäger? Nein, Angler! Sie werfen an der Spitze des Kaps ihre Angeln aus.

Prächtig zeigt sich in unserem Rücken aber nun das Saos-Gebirge. Prächtig und unzugänglich.

Ich beschließe, am südlichen Meeresufer um die Lagune herum zu wandern. Weil das auf den losen Kieseln nicht ganz einfach ist, nimmt Theo lieber wieder die Straße zurück und unsere Wege trennen sich. Im graublauen Wasser der Lagune kann ich leider keine Vögel entdeckt - es ist wohl zu spät im Jahr. Aber auf dem Strand sitzt ein gescheckter kleiner Vogel, kiebitzähnlich. Ein Regenpfeifer? Möwen verschiedenen Alters und ein Kormoransitzen in einer dichten Reihe am Meeresufer, sie lassen sich kaum von mir stören.

 

Und dann sehe ich auf der Lagune plötzlich ein paar große weiße Flecken. Schwäne? Aber doch nicht hier.... Ich packe das Fernglas aus und erkenne vier Flamingos. Sie sind nicht rosa, sondern eher hellgrau, aber es sind definitiv Flamingos. Hey, vorher hatte Theo noch Witze darüber gerissen, aber hier sind sie wirklich. Flamingos - das ist doch immerhin mal was. Sie schwimmen hinüber zum westlichen Ende der Lagune, wo ich sie schließlich aus den Augen verliere.

Das Ostende der Lagune verzweigt sich in abgeteilten Kanälen, die mit Reusen bestückt sind. Es riecht brackig. Eine Ansammlung von Gerümpel verteilt sich um ein flaches Steinhaus, ein Hund bellt irgendwo. Boote liegen auf dem Strand. Hinter einem großen Baum versteckt sich eine ungewöhnliche, asymmetrische Kapelle mit steinbeschwertem Ziegeldach: Agios Andreas. Der Schlüssel steckt in der Türe, ich kann im gepflegten Inneren, das nur die Hälfte des Gebäudes einnimmt, Kerzen anzünden.

 

Durch steinige, niedrige Frygana und auf Ziegenpfaden - Ziegen hat es prompt auch ein paar - schlage ich mich von der Lagune nach Norden, umgehe einen Weinberg und erreiche eine Straße, die mich wieder zurück zur Agios-Nikolaos-Kapelle führt.

Es ist jetzt halb zwei, und ich hätte Hunger. Wo steckt Theo? Er sitzt bei einem Bier an der Paralia in der Bar mit dem ungewöhnlichen Namen "Totem". Zu essen gibt es dort eigentlich nichts, aber immerhin eine Spanakopita kann die Bedienung auftreiben und mir anbieten.

Danach ist Relaxen im Quartier angesagt, und ich hole das Baden im Meer nach.

Der Sonnenuntergang macht auch heute wieder etwas her.

 

Auf dem Weg zum Kap haben wir am südlichen Ortsende von Kamariotissa die Taverne "Limanaki" gesehen. Am Abend ist sie geöffnet, die Tische stehen über mehrere Terrassenstufen verteilt und mit coronagebotenem Abstand. Angeboten werden vor allem Fischgerichte, Theo probiert die Barbounia, während ich vegetarisch Skordalia und Melitsanosalata bestelle. Die Qualität ist eher so, dass wir einen erneuten Besuch nicht in Betracht ziehen werden, mit 25 Euro liegt das Gespeiste aber preislich im Rahmen. Ist offenbar nicht so einfach mit den kulinarischen Höhenflügen auf Samothraki.

Oder werden wir die nächsten Tage vom Gegenteil überzeugt werden?